Neben Sherlock Holmes kannte Arthur Conan Doyle noch einen zweiten Protagonisten, der in mehr als einer Geschichte vorkam, den Professor George Edward Challenger, einen Zoologen. Der ist ein veritabler Streithammel, der seine Meinungen nicht nur verbal mit Vehemenz vertritt sondern dafür auch gern mal seine Fäuste einsetzt. The Lost World ist die erste (und längste) Geschichte, in der er auftritt. Der kurze Roman wurde 1912 zuerst in der Zeitschrift Strand Magazine veröffentlicht. Bis 1929 kamen noch zwei weitere Romane und zwei Kurzgeschichten dazu. Aktuell habe ich nicht im Sinn, diese hier auch noch vorzustellen – ich finde sie zum Teil eher langweilig und vor allem wurde der Charakter von Challenger völlig verändert: von einem zwar streitbaren, aber auf wissenschaftlich nachprüfbaren Fakten beharrenden Mann zu einem, der nicht nur prophezeit, dass die Erde auf ihrer Umlaufbahn demnächst einen Streifen tödlichen Äthers durchqueren werde (der sich dann als nicht-tödlich entpuppt) oder dass eben diese Erde ein richtiges Lebewesen sei (was sich bewahrheitet), sondern lässt sich vor allem nach dem Tod seiner Frau (so, wie Doyle nach dem Tod seines Sohnes!) überreden, dass der Spiritismus echte Erscheinungen Toter herbei ruft.
Die späteren Geschichten mit Challenger sind deshalb allesamt mehr oder weniger wirr – The Lost World aber muss einen Vergleich mit der Science Fiction der damaligen Zeit (Verne, Wells) oder mit den bekannten Abenteuerromanen (Rider Haggard) keineswegs scheuen. In Bezug auf die wissenschaftlichen Fakten hat Doyle sogar einiges recherchiert und in den Roman einfließen lassen. (Wenn er, bzw. Challenger, die Evolution als einen zielgerichteten Prozess versteht, so ist er damit durchaus in den Fußstapfen Darwins anzutreffen.) Die Geschichte will ich hier nicht nacherzählen – man kann sie vielerorts nachlesen. Die verschiedenen Filme, die zu diesem Roman gedreht wurden, hingegen sind selten auch nur halbwegs werktreu. Vor allem fühlten sich praktisch alle Drehbuchschreiber:innen veranlasst, dem Expeditionsteam, das Challenger zusammenstellt, eine Frau hinzuzufügen. Wie jeder echte Autor von Abenteuerromanen aber verzichtete Doyle bewusst auf diesen Faktor, der nur das eigentliche Abenteuer stören würde.
Denn, so viel will ich verraten, um eine abenteuerliche Expedition geht es. Challenger behauptet, weit im Inneren Brasiliens, in der Nähe des Amazon, gäbe es einen geheimnisvollen, unzugänglichen Ort, an dem nach wie vor viele prähistorische Tiere (also: Saurier) lebten. Diese Behauptung zu beweisen oder zu widerlegen, bricht ein Team von zunächst drei Männern auf: Professor Summerlee (ein mehr als nur kritischer Kollege Challengers), Lord Roxton (ein Gentleman-Abenteurer) und der Journalist Edward Malone, der zugleich als Ich-Erzähler amtet (und so, zusammen mit dem Umstand, dass er weder als Abenteurer noch als Paläontologe Erfahrung hat, für diesen Roman die Rolle des Dr. Watson gegenüber Holmes einnimmt). Später in Brasiliens stößt dann noch Challenger persönlich hinzu.
Der Roman kennt ein gerüttelt Maß an Abenteuern und an wissenschaftlichen Entdeckungen und vermag durchaus zu fesseln. Dass die Art und Weise, wie die Eingeborenen behandelt werden oder der schwarze Helfer, überall den weißen Mann des endenden 19. Jahrhunderts verrät, wird wohl kaum erstaunen. Dass die Truppe in diesem verlorenen Land auf eine Spezies von rothaarigen Wesen treffen, die irgendwo zwischen Mensch und Affe angesiedelt sind, gehört zu einer derartigen Story, auch wenn es mich bei der ersten Lektüre durchaus erstaunte, was denn nun bisher unbekannte Entwicklungen der Menschenaffen in Südamerika und in einer Geschichte über Saurier zu suchen hatten. Sie werden zwar als ziemlich intelligent geschildert (de facto mindestens so intelligent wie die Indios, die sich ins verlorene Land verirrt haben), aber auch als absolut bösartig – weshalb sie denn auch gegen Ende des Romans in einer wahren Schlacht umgebracht werden bzw. die Frauen und Kinder als „Arbeitstiere“ der Indios weiter verwendet. Hier drückt der koloniale Umgang der Briten mit Indigenen, ob in Afrika, Indien oder China, mehr als deutlich durch, was im 21. Jahrhundert bei der Lektüre dann doch ein wenig aufstößt.
Alles in allem aber immer noch lesbar und als Beispiel von früher Science Fiction der diesbezüglichen Literaturwissenschaft durchaus lehrreich.
Hmmmmmm. Wenn ich lese, daß die Evolution „zielgerichtet“ sei, stört mich daran etwas. Denn oft, und insbesondere zur Zeit Arthur Conan Doyles, ging dies „Zielgerichtete“ der Evolution sofort in eine Begründung der Herrschaft weißer Menschen über den Globus über, eine Art angeblicher „Meritokratie der Rassen“ und ihrer Stellung in der Welt.
Die Ziele der Evolution sind keine vorher festgelegten Endpunkte einer Entwicklung, sondern sowas wie Attraktoren, die stark vom aktuellen Kontext und der Ausgangskonfiguration abhängen, niemals lange in einem Gleichgewicht bleiben und sich ständig verschieben (können).
So schrieb Jared Diamond in „Guns, Germs & Steel“, daß für die vermeintliche Vorherrschaft eurasischer Zivilisationen im Grunde nur die Ost-West-Ausrichtung Eurasiens verantwortlich sei, die einen großen, in sich selbst sehr ähnlichen Raum für große Reiche und Verbreitung von Pflanzen, Innovationen und Viren schuf, der auf anderen Kontinenten wegen ihrer Nord-Südausrichtung nicht so groß und gleichmäßig war. In diesem Fall bestimmte also die Ausgangskonfiguration bereits stark das Endergebnis.