Heinrich Böll: Irisches Tagebuch

Eine wellenförmige weiße Linie auf grünem Grund. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Genau genommen handelt es sich beim vorliegenden Buch nicht um ein Tagebuch. Und auch um keinen Reisebericht. Zwar liegt mindestens eine Reise Bölls nach und in Irland dem Buch zu Grunde, und ich nehme an, dass Böll sich unterwegs auch Notizen gemacht hat, aber Reise und Notizen hat er verwendet, um in deutschen Zeitungen ein paar impressionistisch angehauchte Kolumnen der Sorte ‚Gott und die Welt in Irland‘ zu veröffentlichen. Aus diesen Kolumnen wurde nachträglich dieses Irische Tagebuch geformt.

Wohl sind die einzelnen Kolumnen, nunmehr Kapitel, grob chronologisch angeordnet, beginnen mit einem, das sich Ankunft I nennt und enden mit einem, das Abschied heißt. Dazwischen aber finden wir Vignetten-artige Impressionen aus dem irischen Leben (Dinge, Leute, Gegebenheiten oder Ereignisse, die dem Deutschen in Irland aufgefallen sind), die nur locker zusammenhängen. So kommt es, dass das erzählende Ich (also Böll) mal alleine unterwegs ist, mal mit einem Freund, mal mit Familie (eine Frau, noch eine Frau – die nicht weiter erklärt wird – und Kinder, was ihm die Gelegenheit gibt, sich ironisch als Pater familias zu stilisieren, von dem erwartet wird, dass er sich um die anstehenden Probleme kümmert und sie löst), dass er mal zu Fuß, mal mit der Bahn, mal mit dem Auto unterwegs ist. Er trifft auf alte Männer, die ihn in einen neuen Mythos als Helden um Rommel einbauen werden, oder auf Polizisten, die Märchen erzählen (kannte er Flann O’Brien? – Er erwähnt ihn nicht).

Es sind allesamt lockere, flockige Texte. So sollte sich das Publikum zwar angesprochen wissen, aber sich intellektuell nicht zu sehr anstrengen müssen. Böll erwähnt Swift, Joyce und Yeats als irische Autoren, so dass das gebildete Publikum schweigend nicken und „Ja, kenne ich alle, alle!“ dabei denken kann – ohne sich in weitere denkerische Unkosten stürzen zu müssen. Es ist Böll auch hoch anzurechnen, dass er die Probleme Irlands nicht verheimlicht. Irland stellte damals, Anfang der 1950er, noch das Armenhaus Europas dar. Da zum Beispiel ist eine unerhörte Landflucht: Von sieben Kindern einer Familie, meint Böll, werden zwei nach den USA auswandern, zwei Mädchen nach London (wo sie Kellnerin werden – oder Prostituierte), ein Kind wird den Familienbetrieb übernehmen (egal, ob kleine Farm oder Postamt) und heiraten, ein weiteres wird dieses Kind unterstützen (aber unverheiratet bleiben müssen, denn mehr als drei Erwachsene kann der Betrieb nicht ernähren), eines wird lokal verheiratet. Es werden die drei wichtigsten Getränke der Iren erwähnt: Tee, Whisky und Stout (die in dieser Reihenfolge eingeführt werden) und die Tatsache, dass sich die Männer des öfteren sinnlos in der Kneipe betrinken. Er spricht die Allmacht der katholischen Kirche in Irland an, aber auch die daraus resultierende innere Emigration der Leute, die sich privat als Atheisten zu erkennen geben, öffentlich dennoch weiter der Messe beiwohnen. Böll spricht das alles an – und mehr. Aber seine fotografisch anmutenden Vignetten sind mit Weichzeichner erstellt worden. Seine Ironie und seine unzweifelhaft vorhandene Liebe zu Land und Leuten lassen im Buch vieles netter und schöner erscheinen als es gewesen sein muss – das Wetter inklusive, nebenbei. Vorhandene Risse werden verschleiert und wirken weniger schlimm. Am meisten bedaure ich das in Zusammenhang mit jenem Iren, der ein Gespräch mit Böll (der nur schon auf Grund seines miserablen Englisch und des unverkennbaren deutschen Akzents als Deutscher erkennbar war) damit beginnt, dass er meint, Adolf Hitler wäre ja nicht so schlecht gewesen, wenn er es nur nicht übertrieben hätte. Böll spricht dann von seiner folgenden Tätigkeit als der eines Ambulanten politischen Zahnarztes, weil er nun dem Iren diesen Zahn ziehen wird. Es gelingt ihm (auch mit viel Whisky als Betäubungsmittel), aber leider teilt er den Lesenden nicht mit, mit welchen Zangen er es geschafft hat. Wir könnten diese Instrumente heute immer noch gebrauchen …

Mit diesem Buch erzeugte Böll im deutschen Sprachraum, gerade auch unter deutschen Intellektuellen, eine Art Irland-Fernweh, Sehnsucht nach dieser Insel. So manche sollen sich tatsächlich überlegt haben, nach Irland auszuwandern – nicht aber Böll selber. Zwar kaufte er sich eine Ferienwohnung in Irland und hielt sich auf häufig dort auf – und zwar immer, wenn ihm der Rummel um seine Person in Deutschland zu heftig wurde. Bezeichnenderweise hörten seine Irland-Aufenthalte praktisch auf, als er den Nobelpreis für Literatur zugesprochen erhalten hatte und man ihn nun auch dort drüben erkannte.

Last but not least muss auch ich für meinen Teil gestehen, dass ich viel von meinem Irland-Bild diesem Büchlein verdanke, und auch bei meinem bisher einzigen Besuch der Insel wohl vieles durch Bölls Brille gesehen habe. Dabei war meine Generation schon die der Kinder Bölls. Deshalb stehe ich wohl diesem Buch auch heute noch prinzipiell wohlwollend gegenüber. Es ist allerdings das erste Mal schon 1957 erschienen, ein Jahr vor Doktor Murkes gesammeltem Schweigen, also zu der Zeit, die ich nach wie vor als die Klimax Böll’schen Schaffens betrachte.

1 Reply to “Heinrich Böll: Irisches Tagebuch”

  1. Zumindest das Wetter wird doch nicht beschönigt, zumindest in der Story, in der es eines Abends so fürchterlich regnet, dass ein triefender Reisender vor der Tür des trauten Heims der Bölls steht, weil er das für den Gasthof hält. Sie lassen ihn dann aber nicht im Regen stehen, sondern gewähren ihm Einlass und Quartier.
    Was es mit Heinrich Bölls Englisch auf sich hatte, ist mir sonst nicht bekannt, abgesehen davon, dass in einer von ihm „durchgesehenen“ Übersetzung des Fängers im Roggen der Romantitel von Thomas Hardy, The Return of the Native, als „Des Wilden Wiederkehr“ erscheint.

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