Étienne Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen [Traité des sensations]

Auf hellblauem Hintergrund ein Schwarz-weiß-Porträt Condillacs. Wir sehen das Gesicht und einen Teil der Allonge-Perücke. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Condillac setzt sich in diesem Buch mit dem englischen Sensualismus auseinander, insbesondere dem von John Locke. Es ist der Diskurs der französischen Aufklärung mit den englischen Positionen der Sensualisten – und mehr. Denn Condillac übernimmt zwar im Großen und Ganzen Lockes Positionen, fügt aber ein oder zwei eigene Punkte hinzu, die machen, dass Condillacs Buch mehr darstellt als nur eine Explikation fremden Gedankenguts und somit philosophiegeschichtlich relevant ist.

Der Franzose führt das ganze Buch hindurch immer wieder dasselbe Gedankenexperiment durch. Er stellt sich eine Statue vor, die zu Beginn völlig ohne Sinnesorgane ist. (Diese Sinnesorgane sind die üblichen, dem Menschen zugesprochenen: Geruch, Gehör, Tastsinn und Gesichtssinn. Den Geschmack lässt er weg, wohl, weil er für ihn nur eine Mischung aus Tastsinn und Geruchssinn darstellt.) Über vier Teile mit jeweils rund zehn Kapiteln beginnt er nun zu experimentieren. Nach einer kurzen Beschreibung der Statue in ihrem Ausgangszustand, also ohne jeden Sinn, die aber relativ uninteressant ist, beginnt er damit, der Statue einen Sinn nach dem anderen zuzuteilen und die Effekte auf die Statue zu beobachten. In weiteren Schritten wird er die Sinne dann auch zusammen verteilen.

Den Anfang macht der Geruchssinn. Eine Statue, die nur den Duft einer Rose riecht, ist in diesem Moment nur Rosenduft. Wenn ich als Experimentator ihr ein Veilchen hinhalte, wird sie zum Veilchen. Mit anderen Worten: Die Statue ist nicht in der Lage, zwischen sich und der Außenwelt einen Unterschied zu machen. (Sie ist aber in der Lage, sich zu erinnern. Sie weiß, dass sie vor ein paar Minuten oder Tagen auch einmal Rose war, selbst wenn sie jetzt Veilchen ist.) So geht er durch sämtliche Sinnesorgane hindurch, die der Statue immer ein wenig anders gelagerte Sinneserfahrungen vermitteln. Wichtig ist für unser Verständnis von Condillac, dass die Statue Form und Distanz eines Objekts nicht durch das Gesicht erfährt sondern durch das Getast.

Aber so lange die Statue nur den Tastsinn zur Verfügung gestellt erhält, bleibt es dabei: Wenn sie einen Würfel ertastet, ist sie in diesem Moment der Würfel. Erst die Kombination verschiedener Sinne, im vorliegenden Fall des Tastsinns mit dem Gesichtssinn, ändert das grundlegend, und auch dann nicht sofort. Zu Beginn, so Condillac, wird die Statue nicht in der Lage sein, ihre Seherfahrungen mit ihren Tasterfahrungen in Übereinstimmung zu bringen. (Condillac stützt sich bei dieser Aussage auf Erfahrungen der zeitgenössischen Medizin, die herausgefunden hatte, dass Menschen, die ihr Leben lang blind waren, die man aber im Erwachsenenalter heilen konnte, genau dieses Problem hatten.)

Für Condillac braucht es einen bewussten Akt, um die Erfahrungen der beiden Sinne mit einander zu verbinden. Inm Moment dieses Aktes trennt die Statue sich von der Außenwelt. Philosophiegeschichtlich macht der französische Aufklärer damit die Statue (und unterdessen ist klar, dass er den Menschen als solchen meint) zu mehr als einer reinen (wie man später sagen würde) Reiz-Reaktions-Maschine. Dass der Mensch empfindet, ist vom Experimentator vorgegeben; was er aber dabei erkennt, ist Akt des Menschen selber. Und dass wir hier eine Quelle der Fichte’schen These haben, wonach das Ich das Nicht-Ich setzt, scheint mir außer Frage zu stehen. (Auch wenn Fichte in seine Konzeption des Ich noch ganz andere Dinge steckte als Condillac in seine Statue.)

Ich bin hier Condillac nicht durch sämtliche Finessen seiner Argumentation gefolgt. Wer mag, findet seine Abhandlung in der Übersetzung durch Eduard Johnson von 1870 in verschiedenen Ausgaben, teilweise überarbeitet, immer noch im Buchhandel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert