Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Dritter Band. 1897-1905

Auf rotem Leinen eingefügt ein fotografisches Schwarz-weiß-Portrait von Harry Graf Kessler (ein Gesicht mit hoher Stirn und Schnauzbart, das Kinn nachdenlich in die rechte Hand gestützt). - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Am 23. Mai 1898 feierte Harry Graf Kessler seinen 30. Geburtstag. Der runde Geburtstag wird zwar als solcher im Tagebuch vermerkt, allerdings offenbar nicht speziell gefeiert. Dennoch ist er ganz eindeutig von großer psychologischer Wichtigkeit für den (nicht mehr ganz so) jungen Mann. Die Einträge in Band 3 der Tagebücher, die die Jahre 1897 bis 1905 umfassen, zeigen uns immer wieder einen Kessler auf Job-Suche (man könnte vielleicht auch sagen: auf Sinn-Suche).

Drei Eisen hat er im Grunde genommen im Feuer:

Da wäre zunächst die praktische Anwendung seiner juristischen Ausbildung. Da ist es nun so, dass er die für einen Posten als Gerichtsassessor notwendigen Prüfungen durchaus absolviert und auch besteht. Aber entsprechende Stellen sind in der preußischen Administration dünn gesät. Auch bemüht sich Kessler nicht wirklich ernsthaft.

Mehr Leidenschaft legt er in seine Bewerbung für den diplomatischen Dienst. Da geht er sogar so weit, dass er einem Verantwortlichen anbietet, zunächst drei Jahre ohne Bezahlung in London tätig zu sein – London deshalb, weil er dort gute Beziehungen habe und so dem deutschen diplomatischen Corps gut behilflich sein könnte. Sein Gesprächspartner findet die Idee interessant (so jedenfalls notiert es Kessler im Tagebuch) und verspricht, zu sondieren, ob das möglich sei. Schlussendlich aber erhält der junge Graf eine Absage.

Vielleicht war er ja ein bisschen übereifrig. Auch wird ihm wohl in der nach wie vor aristokratisch-ständisch ausgerichteten Verwaltung des Deutschen Reichs zumindest hinter vorgehaltener Hand sein noch sehr junger Adelstitel vorgeworfen – 1879 erst hatte der Kaiser seinen Vater in den erblichen Adelsstand erhoben, und zwei Jahre später wurde Kessler sr. von Heinrich XIV. (Reuß jüngere Linie) zum Grafen ernannt, was viele deutsche Adlige vergrämte, hatte doch dieses kleine Fürstentum bis dahin keinerlei Grafschaften gekannt. Harrys Vater aber war nun gestorben und damit fehlten dem Sohn viele der Geschäftsbeziehungen, die dieser hätte ins Gefecht werfen können.

War dem jungen Mann bleibt, ist eine Art erweitertes und offiziell-institutionalisiertes Mäzenatentum in Weimar. Kessler, der seine Bewerbung für Weimar verband mit dem Anspruch einer umfassenden Zuständigkeit für alles, was an künstlerischer Kultur im Großherzogtum Weimar eine Rolle spielte, wurde im Oktober 1902 zum Vorsitzenden des Kuratoriums und im März 1903 zum Leiter des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe ernannt. Nun hätte man meinen können, die Probleme, die er bei der unterdessen eingestellten Kunstzeitschrift PAN gehabt hatte, hätten ihn gewarnt – aber das war offensichtlich nicht der Fall. Abermals verfällt er in den Fehler, allzu moderne Kunst und dazu noch allzu viele ausländische Künstler für seine Ausstellungen zu berücksichtigen. Sprich: Er machte, zumindest vorübergehend, Weimar zum Mekka der französischen Impressionisten. Zwar würde die definitive Katastrophe erst 1906 über Kessler hereinbrechen (also außerhalb des Umfangs von Band 3 der Tagebücher), aber bereits gegen Ende des Jahres 1905 war klar, dass sich der junge Graf ins Abseits manövriert hatte.

Was sonst noch festzuhalten bleibt, in den neun Jahren, die dieser Band umfasst: Kesslers Interessen entwickeln sich immer noch. Konzerte und Opernaufführungen, die er im 19. Jahrhundert noch hin und wieder notiert, fehlen später praktisch gänzlich – mit Ausnahme von Wagners Werken, die er vor allem deshalb besucht, weil Nietzsche eine Verbindung zu Wagner gehabt hatte und weil er unterdessen Wagners Witwe Cosima kennen gelernt hatte. (À propos Nietzsche: Wir haben es dem kurz nach Nietzsches Tod zufällig in Weimar anwesenden Kessler zu verdanken, dass heute eine Totenmaske vom Philosophen existiert. Elisabeth Förster-Nietzsche, ansonsten so sehr auf eine Idolisierung ihres Bruders bedacht, scheint so etwas nicht in Betracht gezogen zu haben.) In Bezug auf die Literatur ist festzuhalten, dass seine Lektüre von Romanen aufhört (zumindest nicht mehr erwähnt wird), während er nach wie vor Schauspiel-Aufführungen besucht. Zu seinem regelmäßigen Umgang gehören allerdings neben den französischen Impressionisten auch deutschsprachige Schriftsteller wie George, Holz, Hauptmann oder Hofmannsthal.

Im Zentrum seines Interesses aber steht die bildende Kunst, vor allem die Malerei. Er gehörte zu jenen, die Aristide Maillol in Deutschland einführten. Später würde er auch in seiner Cranach-Presse eine Vergil-Ausgabe mit Holzschnitten des Franzosen herausbringen. (Eine Reproduktion eines Holzschnitts ziert auch den vorderen Buchdeckel meines bescheidenen Taschenbuchs von Vergils Hirtengedichten – man sehe dort das Titelbild an.) Die Idee, künstlerisch wertvolle Bücher herzustellen, war William Morris’ Kelmscott Press nachempfunden, wie sich Kessler im Berichtszeitraum überhaupt neben den französischen Impressionisten vor allem intensiv mit den englischen Präraffaeliten (Rossetti, Madox Brown etc.) auseinandersetzt. Wichtig für Kesslers Entwicklung als Kunsttheoretiker sind seine beiden im vorliegenden Zeitraum unternommenen Reisen – die eine nach Italien, wo er die Kunst der Antike wie der Renaissance studiert, die andere (vor allem der antiken Kunst gewidmet) nach Griechenland bzw. der Türkei. Dort besucht er auch Ausgrabungsstätten. Die beiden Reisen schärfen Kesslers Kunstempfinden beträchtlich. Viele seiner Bemerkungen zur Kunst zeigen kunstgeschichtliches und (an Schillers Anmut und Würde geschultes) kunsttheoretisches Wissen, das sich auch außerhalb der Tagebücher gut gemacht hätte. Tatsächlich sind seine Einträge nicht nur sehr ausführlich, sozusagen druckreif, er verbindet sie auch mit Querverweisen auf andere Einträge, was zeigt, dass eine Veröffentlichung tatsächlich geplant ist. (Ähnliches, nebenbei, gilt auch für seine Einträge zur Reise nach Mexiko im vorhergehenden Band der Tagebücher. Ich habe bei der Besprechung schon geschrieben, dass man diese Einträge durchaus als eigenständigen Reisebericht veröffentlichen könnte. Kessler hat dann wirklich einen solchen in der vorliegenden Periode drucken lassen.)

Summa summarum: Band 3 der Tagebücher Harry Kesslers gibt uns nicht nur einen Eindruck von der abermaligen Entwicklung des Schreibers, wir finden auch durchaus überlegenswerte kunsttheoretische Aperçus darin.


Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Dritter Band. 1897-1905. Herausgegeben von Carina Schäfer und Gabriele Biedermann, unter Mitarbeit von Elea Rüstig und Tina Schumacher. (= Band 50.3 der Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft. Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. 1880-1937. Herausgegeben von Roland M. Kanzelak und Ulrich Ott. Unter Beratung von Hans-Ulrich Simon, Werner Volke (†) und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta, 2004.

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