Christian Müller: Arbeiterbewegung und Unternehmerpolitik in der aufstrebenden Industriestadt Baden nach der Gründung der Firma Brown Boveri 1891-1914

"Arbeitsschluss bei Brown Boveri". Schwarz-weiß-Fotografie, ca. von 1910, aber auf rotem Hintergrund gedruckt. Man sieht eine Menge Männer in Anzug und mit Strohhut, sowie ein paar Frauen in hellen Kleidern, auf einer breiten Straße ein Fabrikgelände verlassen. Das Fabrikgelände ist gekennzeichnet durch mehrere große Gebäude in Bildhintergrund links und rechts der Straße. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Ist es sinnvoll, ein Buch vorzustellen, das praktisch nur lokalhistorischen Inhalt vorzuweisen hat?*) Anders gefragt: Sind die darin geschilderten Ereignisse, die dazu führten, dass eine unbedeutende Schweizer Kleinstadt zu einem Zentrum der Industrialisierung wurde, als Prototyp ähnlicher Entwicklung in anderen Städten anzusehen oder haben wir einen Sonderfall vor uns? Eines immerhin können wir festhalten: Der Autor dieser Dissertation von 1974 (denn um eine solche handelt es sich ursprünglich) wurde seither in der Schweiz als Journalist ziemlich bekannt. Nur schon das rechtfertigt es vielleicht, einen Blick auf seine Anfänge zu werfen.

Eine ähnliche Frage wie die obige stellt sich übrigens auch der Autor selber, wenn er in seinem Nachwort fragt:

Kann eine sozialhistorische Monographie über die aargauische Kleinstadt Baden nur lokalgeschichtliche Interessen befriedigen, oder kann sie paradigmatischen Charakter haben, repräsentativ sein für eine bestimmte Kategorie anderer Städte? Diese Frage wurde – in simpleren, aber auch differenzierteren Formulierungen – ungezählte Male an den Verfasser gerichtet, während er sammelte, sichtete und die Ergebnisse seines Sammelns und Sichtens niederschrieb. […] Es ist aber auch jetzt [nachdem die Arbeit fertig gestellt ist – P.H.] kaum möglich, die gestellte Frage klipp und klar zu beantworten; denn es fehlt an Vergleichsmöglichkeiten: Es liegen unseres Wissens keine Untersuchungen über andere Städte vor, die einen eingehenden Vergleich zuliessen.

S. 174

Das sind natürlich zunächst wissenschaftliche Kautelen; aber es zeigt sich doch auch schon der zukünftige um objektive Berichterstattung bemühte Journalist.

Nun gibt es gewiss Entwicklungen, die sich so nur in Baden ereignet haben. Das hing dann meist von einzelnen Persönlichkeiten ab. Da ist zum Beispiel der hart durchgreifende Direktor der BBC, Funk, den die eigentlichen Patrons Brown und Boveri meistens vorschoben, der viel dazu beitrug, die Arbeitskämpfe zu radikalisieren, dem es aber auch beinahe gelang, die sich bildenden gewerkschaftlichen Organisationen zu zerschlagen, und dem die Arbeiterschaft keine ähnliche Persönlichkeit entgegenzusetzen hatten.

Dennoch: Es gibt andere Entwicklungen, die sich so nicht nur in Baden ereignet haben. Was die Firma Brown, Boveri & Cie. (meist – und auch hier – abgekürzt: BBC) für Baden war, waren andere Firmen für andere Schweizer Kleinstädte. Und dass die Industrialisierung in der Schweiz mit rund 100 Jahren Verspätung eintraf, also später noch als in Deutschland, ist eine Tatsache. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Schweiz das Armenhaus Europas und Tausende wanderten aus, vor allem ins gelobte Amerika (Norden wie Süden). Erst die Industrialisierung (BBC in Baden, Sulzer in Winterthur, um nur zwei Firmen in zwei Städten zu nennen, die beide – Firmen wie Städte – eine sehr ähnliche Entwicklung durchmachten) mit ihrer praktisch sofortigen Spezialisierung konnte längerfristig Arbeitsplätze in der Schweiz schaffen. Dabei half sicher, dass – zumindest in den Anfängen – die prekäre ökonomische Situation der arbeitenden Bevölkerung sehr tiefe Löhne erlaubte.

Müller nun versucht nachzuzeichnen, wie sich in Baden im Gefolge der Industrialisierung eine Arbeiterbewegung zu bilden begann. Deren Anfänge waren bescheiden. Meist waren es noch mehr oder weniger lose, auch mit einander rivalisierende Gruppierungen, die sich auch deshalb gegenseitig behinderten, weil sich die Arbeiter zunächst („Das Hemd ist mir näher als die Hose“) nur firmenintern organisierten (in Baden sahen zum Beispiel die Arbeiter der BBC keinen Grund, sich mit denen der Firma Merker zu vereinen). Ja, selbst innerhalb derselben Firma wollten zum Beispiel die Metallgießer nichts mit den übrigen Arbeitern zu tun haben.

Die ersten Streiks, die allesamt nicht für Lohnfragen entstanden, sondern weil führende Gewerkschaftsmitglieder entlassen worden waren und man ihre Wiedereinstellung verlangte, scheiterten letztendlich an der mangelhaften Organisation der Arbeiterseite. Zu stark fluktuierten die Mitgliederzahlen (und damit die finanziellen Ressourcen) der einzelnen Verbände, zu partikular waren auch die Interessen. Eine übergreifende Ideologie (wie z.B. der Marxismus) war in diesem Gemengelage von fast bürgerlichen, streng proletarischen, aber auch christlich-sozialen (sprich: katholischen!), immer aber ad hoc handelnden Arbeitervertretungen nicht anzutreffen.

Auch Versuche, sich jenseits der eigentlichen gewerkschaftlichen Arbeit zu profilieren, waren nicht in jedem Fall erfolgreich. Der Versuch, ein genossenschaftlich organisiertes Restaurant auf die Beine zu stellen, scheiterte schließlich; eine Einkaufsgenossenschaft für Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs war da glücklicher (und ist eine der vielen Zellen geworden, aus denen sich schlussendlich einer der aktuell größten Detailhändler der Schweiz formierte).

Alles in allem kann man feststellen, dass sich im vom Autor ins Auge gefassten Zeitraum in Baden viele Dinge ähnlich entwickelten wie in vergleichbaren Städten – aber auch, dass es an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht vorhersehbar war, dass die Gewerkschaften in der Schweiz doch noch zu einem Erfolgsmodell werden könnten. Die Entwicklungen, die dazu führten, waren in diesem Zeitraum nicht vorhersehbar.

Fazit: Auch jenseits eines lokalgeschichtlichen Interesses durchaus spannend.

Technisches: Ich weiß nicht, ob das Buch noch irgendwo greifbar ist. Hier jedenfalls die Angaben:

Christian Müller: Arbeiterbewegung und Unternehmerpolitik in der aufstrebenden Industriestadt. Baden nach der Gründung der Firma Brown Boveri 1891-1914. Aarau: Sauerländer, 1974. [Der Verlag hat sich entschieden, den Teil nach Baden als Untertitel zu behandeln. Meiner Meinung nach müsste der Titel dann aber lauten: „in einer aufstrebenden Industriestadt“. Dies und eine gewissen Kenntnis der Gewohnheiten von Dissertationen aus jener Zeit haben mich veranlasst, das Ganze ohne Punkt als Titel dieses Aperçu zu wählen.]

Im Übrigen hat auch dieses Buch eine Nachgeschichte. Die von Müller 1974 noch als so florierend dargestellte BBC musste wegen schlechter Ergebnisse knappe 15 Jahre später mit der schwedischen ASEA fusionieren. Das neue Gebilde hieß nun ABB und zeichnete sich jahrelang vor allem durch wilde Reorganisationen aus, von denen weniger die Firma und mehr die CEOs profitierten. Verkäufe von Teilsparten, auch ehemals zentralen, führten dazu, dass die Firma 2020 ihren Status als größter Industriearbeitgeber der Schweiz verlor und damit auch aus den Schlagzeilen verschwand, da die Firma hierzulande nunmehr wieder nur von lokalem Interesse ist. So schließen sich Kreise: für die ehemalige BBC ebenso wie für dieses Aperçu.


*) Die Frage ist natürlich selber sinnlos. Wir haben uns nie verpflichtet, in diesem Blog nur Sinnvolles zu veröffentlichen. Er gehört uns und – außer strafrechtlich Relevantem – dürfen wir hier treiben und publizieren, was und wie wir möchten. Außerdem ist es eine der Eigenschaften des World Wide Web, dass mir ständig, wo immer ich surfe, von allen Seiten, regionale und lokale Nachrichten und Einladungen zu irgendwelchen, Hunderte von Kilometern entfernten Events unter die Augen kommen. Warum also nicht einmal Lokalgeschichte?

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 2

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