Gordon Daviot | Josephine Tey: Warten auf den Tod [The Man in the Queue]

Gezeichnete Szene vor einem Londoner Theater. Links wartet eine Menschenschlange auf Einlass, im Vordergrund der Schirm eines Passanten und ein altmodisches Automobil. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Mit dieser Veröffentlichung beginnt die Karriere von Elizabeth MacKintosh als Autorin von Kriminalromanen. Es ist zugleich der erste Krimi mit Inspector Alan Grant als Ermittler. MacKintosh verfasste den Roman als Beitrag für einen Wettbewerb des Verlags Methuen, den sie auch gewann. Das Buch erschien 1929 in eben diesem Verlag. Wie alle ihre Bücher publizierte Elizabeth MacKintosh auch dieses unter einem Pseudonym. Sie verwendete zuerst den Namen Gordon Daviot. Später würde sie dieses Pseudonym ausschließlich für ihre dramatischen Werke verwenden wollen, während sie für die Kriminalromane den Namen Josephine Tey adoptierte. So kam es, dass alle folgenden Auflagen und auch die Übersetzungen von The Man in the Queue mit Josephine Tey gezeichnet sind.

Bis heute überschattet der Ruhm als Autorin von Kriminalromanen die übrigen literarischen Erfolge der Autorin. Was durchaus daran liegt, dass diese ihre Krimis sauber und intelligent konstruiert sind – und trotzdem originell bleiben. Das gilt auch schon für ihren Erstling auf dem Gebiet. Wir erleben hier mit, wie Inspector Grant sich in einem Mordfall vom ersten Stadium der Ermittlungen, in dem er nur weiß, dass da einer in einer Warteschlange ermordet wurde, durchkämpft bis zur Verhaftung des Mörders. Zunächst sind da nur der Tote und die Waffe, ein kleiner Dolch. Der Tote trägt weder Papiere auf sich noch sonst Merkmale in der Kleidung, die ihn identifizieren könnten. Man weiß einzig, dass kurz vor seinem Tod ein Mann auf den Schlange Stehenden zu getreten ist, der rasch wieder verschwand. Der Täter? Erste falsche Spuren in die organisierte Kriminalität werden verfolgt. Dann gelingt es, den Toten zu identifizieren. Danach findet man an Hand von Beschreibungen den Mann, der kurze Zeit neben dem späteren Opfer stand. Er schlüpft Grant noch einmal aus den Fingern, wird aber schließlich (in Schottland!) definitiv eingefangen. Der Fall scheint klar. Doch hier zeigt sich das Genie der Autorin. Sie lässt Grant an der Täterschaft des Überführten zweifeln. Es ist für ihn dies eine reine Gefühlssache.

Hier allerdings, ganz am Ende, pfuscht Josephine Tey trotzdem. Zwar ist die tatsächliche Täterin im Lauf des Romans schon aufgetreten. Grant und mit ihm die Lesenden hatten aber keine Chance, auf sie zu kommen, weil sie das entscheidende Motiv nicht wussten – nicht wissen konnten. So tritt die Täterin zum Schluss als eine Art Dea ex machina auf und gesteht den Mord, weil sie nicht will, dass ein Unschuldiger verurteilt wird. Ihr Mordmotiv ist etwas, von dem im ganzen Roman nie die Rede war. Das mag in der Realität so vorkommen, enttäuscht aber uns Lesende einer Fiktion doch ein wenig. Auch dass in den letzten Kapiteln plötzlich eine Ich-Figur erscheint, wirkt seltsam – umso seltsamer als diese Figur weder die Handlung weiter erzählt noch in diese involviert wäre. Sie führt einfach Gespräche mit Grant.

Josephine Teys spätere Romane mit Alan Grant als Ermittler sollten solch eklatante logischen Löcher nicht mehr aufweisen. Dennoch ist es auch interessant zu sehen, wie wenig sich im Grunde genommen die Figur des Inspectors in den 23 Jahren bis zur Veröffentlichung des letzten Krimis von Tey (The Singing Sands) noch verändert hat: Junggeselle, finanziell nicht auf den Job bei der Polizei angewiesen, stark von gefühlsmäßigen Impressionen geleitet bei seinen Ermittlungen – eine durchaus eigenständige Figur im riesigen Haufen von Ermittlern und Ermittlerinnen, die es heute gibt und damals schon gab . Einzig seine Interaktionen mit Vorgesetzten und Untergebenen erhielten im Lauf dieser Jahre noch den letzten Schliff, will sagen: Diese Nebendarsteller werden besser herausgearbeitet.

Dennoch: Wer sauber geschriebene, altmodische Krimis mag, ist mit Warten auf den Tod gut bedient – auch wenn der aktuelle Titel der deutschen Übersetzung Blödsinn ist. Es wartet in diesem Roman keiner auf den Tod. Das Mordopfer wartet in einer Schlange, um in eine Theater-Vorstellung eingelassen zu werden. Wahrscheinlich hatte man Angst, dass der Mann in der Schlange der ursprünglichen Übersetzung des Titels (das Buch hieß auf Deutsch zunächst Der Mann in der Schlange, was die wörtliche Übersetzung des englischen Titels darstellt) vom Publikum mit dem Elefanten in der Schlange des Kleinen Prinzen von Saint-Exupéry assoziiert werden könnte …


Die alte Übersetzung von Jochen Schimmang ist dieses Jahr (2024) bei Oktopus, einem Imprint des Kampa-Verlags, in Zürich neu aufgelegt worden. In dieser Version habe ich den Roman auch gelesen.

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