Bevor er seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger ableistete, ging Harry Graf Kessler auf Weltreise. Mit dem Einverständnis seines Vaters plante er eine rund einjährige Reise um die Welt für 1892. Wie schon im ersten Band der Kessler’schen Tagebücher stoßen wir auch hier auf die Tatsache, dass – wohl weil Kessler die Tagebücher wirklich für sich selber schrieb und nicht für eine (postume) Öffentlichkeit – vieles nicht erklärt wird, wir also den Grund für dieses oder jenes nicht wissen. Bei der Weltreise zum Beispiel den Grund dafür, dass sie zum Schluss nur rund ein halbes Jahr dauerte und der ursprünglich eingeplante Besuch auf der Südhalbkugel (nämlich in Australien und Neuseeland) wegfiel.
Der Beginn der Weltreise glich ein wenig dem, was früher die jungen Adligen ausführten: der so genannten ‚Grand Tour‘ durch Europa, die weniger dem Vergnügen diente als der Bildung der jungen Männer einerseits, aber und vor allem dem Besuch von verwandten Häusern und der Festigung von dynastischen Verbindungen. Im doch schon bürgerlichen Zeitalter Kesslers waren die dynastischen Verbindungen zu kaufmännischen geworden. Zum Teil sogar in Begleitung seines Vaters besuchte der junge Harry also in New York die mit der väterlichen Bank verbundenen Häuser und Filialen.
Nach einem Besuch in New Orleans und in Kanada durchquerte Kessler dann im Zug den nordamerikanischen Kontinent, um nach kurzem Aufenthalt in San Francisco ein Schiff nach Japan zu nehmen. Von dort ging es über China (wo er, wenn ich das richtig verstanden habe, auch schon mal eine Opium-Pfeife versuchte), Vietnam, Singapur und Indien (Bombay, wie die Stadt damals genannt wurde) nach Kairo, von wo aus er selbstverständlich auch die Pyramiden besuchte um dann nach Berlin zurück zukehren.
Das alles schildert er recht ausführlich, allerdings nicht immer ganz in der gleichen Ausführlichkeit. Aber man könnte diese Teile des Tagebuchs, ebenso wie die späteren über seine Reise nach Mexiko von 1896/1897 durchaus selbständig als Reisebericht veröffentlichen. Kessler ist in beiden Fällen noch recht jung und reagiert recht vorhersehbar – will sagen: wie der typische Europäer. Die USA sind ihm zu lebendig, zu hektisch. In Japan, das sich vor kurzem erst der westlichen Kultur geöffnet hatte (öffnen musste), findet er die Japaner, die in westlichen Anzügen zur Arbeit fahren, seltsam – um nicht zu sagen komisch. Auch später noch, auf seiner Mexiko-Reise, bringt er typisch europäische Vorurteile mit. Er ist der Meinung, auf Grund eines weniger entwickelten Intellekts müssten die Mexikaner sich die Welt sozusagen mit dem Tastsinn aneignen – deshalb die häufigen Umarmungen unter Männern, die ihn nachgerade abstoßen. In ihrer Einleitung sprechen die Herausgeber des vorliegenden Bandes diesbezüglich sogar von rassistischen Äußerungen Kesslers.
Vergnügungsreisen waren damals noch Privileg der Reichen und ganz Reichen. Nur schon dadurch, dass er sich eine Weltreise gönnen konnte, zeigte Harry Graf Kessler, dass er zu dieser Schicht gehörte. Für den Großteil selbst der europäischen Bevölkerung blieb so etwas unerreichbar, was – worauf die Herausgeber ebenfalls hinweisen – natürlich auch den Erfolg der Reiseromane zum Beispiel eines Jules Verne ausmachte. Der junge Harry ist sich dessen wohl bewusst, das beweist seine Haltung, als er auf der Überfahrt nach New York einen Blick auf die Menschenmenge im Zwischendeck wirft. Sie erinnert hier fatal an die eines absolutistischen Monarchen gegenüber einem leibeigenen Bauern.
Den nachfolgenden Dienst als Einjährig-Freiwilliger gestaltete sich Harry so einfach wie möglich. Er diente beim 3. Garde-Ulanen-Regiment in Potsdam. Im Großen und Ganzen schien er den Dienst sogar zu mögen. Bezeichnenderweise sind in der Zeit seines Militärdienstes die Einträge im Tagebuch wieder sehr kurz geworden. Immerhin erfahren wir, dass er sich durch seine Beziehungen vom Stalldienst befreien lassen kann. Aber von einem Widerwillen gegen seine militärischen Verpflichtungen, wie man es von dem späteren Pazifisten hätte erwarten können, finden wir in seinen Tagebuch-Eintragungen keine Spur. Im Gegenteil: Er scheint selbst das so genannte Kaiser-Manöver zu genießen.
War es seine Weltreise, war es der Militärdienst? Wir sehen, wie seine Persönlichkeit abermals einen Entwicklungsschub durchmacht. Nicht nur, dass ihn die Musik mehr zu interessieren beginnt (vor allem die Oper besucht er nun regelmäßig). Nicht nur, dass seine Einträge zur Lektüre ausführlicher und intelligenter werden. Er wird vor allem in der bildenden Kunst zu einer der führenden Gestalten der damaligen Moderne. Nicht als ausführender Künstler, aber als Mäzen sowie Mit-Begründer und Mitglied der Redaktionskommission der Kunstzeitschrift PAN. Ob in dieser Eigenschaft oder aus persönlichem Interesse, geht aus den Tagebüchern einmal mehr nicht hervor, aber er besucht in Paris zwei Mal Paul Verlaine (der dann 1896 sterben sollte) und in England den bekanntesten Mann der Arts and Crafts-Bewegung, William Morris (der ebenfalls 1896 starb). Als zwischen Redaktionskommission und den Herausgebern der PAN ein Streit über die Ausrichtung entstand (die Redaktionskommission als Aufsichtsorgan wünschte in der Zeitschrift mehr deutsche Kunst und weniger Experimentelles), war es Kessler, der Otto Julius Bierbaum das Ultimatum überbringen sollte (der ging dann allerdings vorher freiwillig weg).
Last but not least ist Kessler bei seiner ausgedehnten Lektüre auch auf Schopenhauer und – vor allem! – auf den damals in den intellektuellen Zirkeln omnipräsenten Nietzsche gestoßen. Bei letzterem bleibt es nicht beim Lesen. Er knüpft Kontakte zu dessen Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Deren Weltanschauung bleibt ihm fremd, aber er versucht, Einfluss zu nehmen auf den Standort des Nietzsche-Archivs. Den Philosophen selber hat er offenbar aber nicht getroffen.
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Zweiter Band. 1892-1897. Herausgegeben von Günter Riederer und Jörg Schuster unter Mitarbeit von Christoph Hilse. (= Band 50.2 der Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft. Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. 1880-1937. Herausgegeben von Roland M. Kanzelak und Ulrich Ott. Unter Beratung von Hans-Ulrich Simon, Werner Volke (†) und Bernhard Zeller (†). Stuttgart: Cotta, 2004. [Vor mir liegt die zweite Auflage von 2010.]