Gestern abend rief Kurt an: Pack deinen Koffer. Dienstag fliegen wir nach Sibirien, eine Delegation vom Zentralrat, du wirst schreiben. Keine Ausreden, keine Bedenkzeit. Route: Moskau, Zelinograd, Nowosibirsk, Irkutsk, Bratsk, Moskau.
So, völlig unvorbereitet, ist Brigitte Reimann zu ihrem Auftrag gekommen. Ihre Ferienpläne konnte sie gleich aufgeben – Auftrag ist Auftrag, und wenn die Partei befiehlt … (Aber letzteres schreibt sie natürlich nicht.)
Ihr Bericht von der Reise nach Sibirien ist in Form eines Tagebuchs gestaltet. Im Anhang meiner Ausgabe (s.u.) finden sich auch Auszüge aus ihrem ‚echten‘ Tagebuch, wo sie die Auftragserteilung bedeutend sarkastischer beschreibt:
Gestern abend rief Kurt Turba an. Wir fahren Montag mittag nach Sibirien. Ich war überrumpelt. Eine halbe Stunde Bedenkzeit – aber Ausreden gab’s nicht, nach der Reise soll ich drüber schreiben. Eine FDJ-Delegation (»die Hälfte davon mit Halbglatze«, sagte T.) geleitet von Schumann; Route: Moskau-Nowosibirsk, Irkutsk, Bratsk, Moskau. Zum Glück fährt der Turba mit, sonst hätte ich mich um keinen Preis bereden lassen; bei ihm fühle ich mich gut aufgehoben. […]
Teuflische Angst vorm Fliegen; ich habe auf alle Fälle mein Testament gemacht. Ein Mensch des 20. Jahrhunderts … na.
Nun, vor Ort sollte die Delegation der Freien Deutschen Jugend dann mit schweren Motorwagen und teilweise mit der Transsibirischen Eisenbahn transportiert werden; auch würde die Autorin ihre Flugangst im Lauf der Reise abschütteln.
Reimann gehörte zu den literarischen Stars der DDR und war Teil jener Generation, die – zumindest, was das Schreiben betrifft – bereits in der sozialistischen und staatlich kontrollierten Welt des Ostblocks aufgewachsen war. Außerdem verstand sie offenbar wenig von Naturwissenschaft und Technik, bzw. wenn sie etwas davon verstand, war sie klug genug, nichts durchblicken zu lassen und konnte so voller Bewunderung über die technologischen Wunderwerke und wissenschaftlichen Fortschritte berichten, die die UdSSR in Sibirien errichtet und gemacht zu haben vorgab.
Schreiben aber konnte sie, daran lässt uns auch dieser kurze Text keine Zweifel. Und ich meine nicht nur ihren Stil. Auch sonst kannte sie offenbar genügend Schliche und Tricks. Indem sie die UdSSR für ihre Technik bewunderte, konnte sie nicht nur die Landschaft bewundern (für die der Staat ja nichts konnte, ja, die zu verschandeln er gerade im Begriff war), nicht nur ihre fast Teenie-haften ‚Crushes‘ auf verschiedene Männer einfließen lassen, die sie dort antraf (es waren alles Helden der Sowjetunion, insofern war es auch ideologisch erlaubt, ja fast gefordert). Sie konnte vor allem auch die eine oder andere ironische Spitze im Text verstecken. Die Halbglatze zwar des Tagebuchs fiel weg, aber als die Delegation der FDJ weit draußen in Asien ein Volleyball-Spiel am Strand eines Sees gegen die sowjetischen Techniker spielte, war ihr das sichtbare Übergewicht der deutschen Herren durchaus eine Bemerkung wert – auch wenn sie sie natürlich mit einer ‚weiblichen‘ Bewunderung für die sportlichen Körper der jungen Einheimischen kaschierte.
Ansonsten wird außer Kunze niemand aus der schriftstellenden Riege der DDR genannt, wenn ich das richtig gesehen habe. Sie ruft im Großen und Ganzen auf Klassiker der Weltliteratur an und auf, allerdings solche, die man mit ein bisschen gutem Willen tatsählich als ‚links stehend‘ klassifizieren könnte: Dostojewski, Tolstoi, Balzac, Dickens oder Cooper werden erwähnt. Als einzigen weiteren Russen habe ich Pasternak gefunden (war der zu jener Zeit – die Reise fand 1964 statt – bereits wieder rehabilitiert?). Dazu noch Grass (gut, denn konnte man zu jener Zeit auch noch als ‚links‘ bezeichnen). Aber Hemingway?
Im Übrigen wird von den Sowjets geklotzt und nicht nur gekleckert. Opulente Bankette finden schon in Moskau statt, aber auch noch in den sibirischen Steppen. Dabei wird nicht nur viel gegessen sondern auch viel getrunken. Wasser. Wässerchen. Wodka. Reimann weicht, so gut sie kann, auf Mineralwasser aus. Dennoch vermerkt sie nach der Reise, zurück in Berlin:
Meine Hosen passen mir nicht mehr, die Röcke sitzen wie eine zweite Haut – ich habe nicht nur mein Herz, sondern auch meine Taille in Sibirien verloren. Na, das ist bald runter, wenn ich in diesem Tempo weiterarbeite.
Brigitte Reimann: Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise. Mit einem Auszug aus dem privaten Tagebuch und Fotos von Thomas Billhardt. Lizenzausgabe 2024 für die Büchergilde der im Aufbau Verlag mit © 2000 erschienen Ausgabe. (Erstveröffentlichung: Verlag Neues Leben, Ost-Berlin 1965)