Curaçao – natürlich nicht der (meiner Meinung nach grauslich schmeckende) Likör, der gar nichts mit der Insel zu tun hat – ist der Schauplatz dieses Romans von 1973. Er soll damals der erste gewesen sein, bei dem wirklich alle Haupt- und Nebenfiguren von dunkler Hautfarbe waren. Frank Martinus Arion war selber Schwarzer und stammte aus dem gleichen Milieu wie die Hauptgestalten seines Romans: eine nicht allzu reiche Mittelschicht, die in den Außenbezirken von Willemstad wohnte. Alle Figuren des Romans besitzen ein eigenes Haus – das sie aber selber aufgebaut haben. Keines dieser Häuser ist wirklich fertig geworden. Der Grund dafür war meistens fehlendes Geld und mangelnde Geduld der Bauherren – oft genug beides in Kombination. Einige der Hauptfiguren arbeiten in der Verwaltung, andere bei den großen ausländischen Multis, meist Ölfirmen. Niemand ist wirklich reich, aber fast alle tragen die Ambition mit sich, auf der sozialen Leiter weiter aufzusteigen. Einer, ein Gerichtsdiener, möchte Richter werden – genauer: Er träumt davon, Richter zu sein, denn den schwierigen Weg eines Studiums mag er nicht auf sich nehmen. Ein anderer hat sich bei der lokalen Freimaurerloge angemeldet und hofft so zu Verbindungen zu kommen.
Die Handlung des Romans läuft binnen zwölf Stunden ab, von Sonntagmorgen bis Sonntagabend. Frank Martinus Arion gelingt es, in der Schilderung dieser Zeit die Vorgeschichte seiner sechs Hauptfiguren ebenso unterzubringen wie eine Schilderung ihres Tagesablaufs. Erzählt wird die Geschichte von vier Freunden, die sich jeden Sonntagnachmittag treffen, um Domino zu spielen. Das Dominospiel ist in Curaçao, was hierzulande Fußball ist: Es gibt Klubs und Meisterschaften – ergo auch Ambitionen. Den vier Freunden ist es allerdings bisher gelungen, das Spiel auf freundschaftlicher Ebene zu halten.
Doch in den zwölf Stunden des Romans erleben wir als Lesende, wie die persönlichen Verwicklungen unserer Personen diese Freundschaft nach Jahren zu verändern beginnen. Von den vier Männern sind nämlich zwei verheiratet. Sie betrügen aber ihre Frauen, indem sie das eigentlich für die Angestellten der lokalen Niederlassung der Ölgesellschaft vorgesehene Bordell frequentieren, wo sie das für Kleidung und Schuhe der Kinder vorgesehene Geld für Frauen und Alkohol ausgeben. Sie betrinken sich bis zur Bewusstlosigkeit und haben dann am nächsten Morgen nicht nur einen Kater, nicht nur Erinnerungslücken, sondern vor allem einen riesigen Streit mit ihren Gattinnen, denen natürlich nicht verborgen geblieben ist, wo ihr Mann die Nacht verbracht hat. Diese Gattinnen allerdings sind selber keine Engel, gehen selber fremd – dummerweise (auch) mit den beiden nicht verheirateten Dominospielern des Quartetts.
Die Kunst des Autors besteht nun darin, dieses ganze Gemengelage in der Schilderung des nachmittäglichen Dominospiels zu konzentrieren. Doppeltes Spiel bedeutet hier, dass die Vier nicht nur Domino spielen. Es entwickelt sich auf einer zweiten, halb versteckten Ebene ein psychologisches Gezerre: Anspielungen, halbe und wieder zurückgenommene Geständnisse etc. Das kann nicht lange gut gehen, wie wir als Lesende immer mehr spüren – und tatsächlich endet das bisher so freundschaftliche Spiel dieses Mal in einer Katastrophe. Dabei ist es dem Autor nicht unwichtig, klar zu machen, dass die vier Spieler während dem Spiel sehr wenig oder fast gar nichts trinken, trotz der Tatsache, dass sie ja ansonsten allesamt vor allem dem Rum nicht abgeneigt sind. Aber die Katastrophe soll ja eben gerade nicht das Resultat von Alkohol-Missbrauch sein, sondern die Unausweichlichkeit einer Katastrophe im antiken Drama haben.
Allerdings entlässt uns der Autor nicht auf dem Höhepunkt (bzw. für die vier Freunde: Tiefpunkt) der Geschichte. Ganz, ganz, ganz am Ende hat Frank Martinus Arion noch eine Überraschung bereit. In einem kleinen Ausblick auf das zukünftige Schicksal der Freunde zeigt er uns in der Gestalt einer der Frauen, die unterdessen mit ihrem ehemaligen Liebhaber zusammen lebt, eine gesellschaftspolitische Utopie. Ihr neuer Mann hat nicht nur wieder ernsthaft als Tischler zu arbeiten begonnen, nun, da er wieder einen Grund dafür hat. Sie bringt es dahin, dass eine Genossenschaft der Tischler gegründet wird, um Preisdumping und Erpressungsversuche von Seiten der reichen Kundschaft zu verhindern. Eine Genossenschaft der Taxifahrer gründet sie gleich noch dazu. Ja, sie gründet eine Partei mit einem genossenschaftlichen sozialistischen Ansatz.
Wenn dies alles klappt, wird sie vielleicht die erste Premierministerin von Amerika. Ich meine Nord-, Mittel- und Südamerika.
In diesem Schlusssatz steckt nicht nur die beständige Klage der Mittel- und Südamerikaner über die in Europa und den USA regelmäßig verwendete, aber im Grunde genommen nicht korrekte Bezeichnung ‚Amerika‘, wenn eigentlich nur die USA gemeint sind. Diese genossenschaftliche sozialistische Ansatz war tatsächlich in den 1970ern auch in Europa im Gespräch, inspiriert von der jugoslawischen Volkswirtschaft unter Tito. Weder in Europa noch auf Curaçao hat er sich aber durchgesetzt, obwohl Frank Martinus Arion seinerzeit in seiner Heimat sogar wirklich eine eigene Partei gegründet hatte, um ihn zu verwirklichen. Sie gewann nie einen Sitz im Parlament …
Frank Martinus Arion: Doppeltes Spiel. Aus dem Niederländischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Lisa Mensing. Frankfurt/M, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg, 2022.