Um auf den Namen Charles Nodier zu treffen, muss man schon recht tief in die Geschichte der französischen Literatur abtauchen. Dort gilt er als einer der frühen Romantiker, in dessen Haus in Paris sich der Kreis um den jungen Victor Hugo traf und wo er auch Alfred de Musset und Sainte-Beuve beeinflusste. Wobei die französische Romantik einen etwas anderen Verlauf nahm als die ihr zeitlich voranstehenden englische und deutsche Romantik. Letztere stellten vor allem ein Zurückgreifen dar auf die Quellen – sei es die Natur, wie vor allem im Englischen, sei es die volkstümliche Dichtung wie im Deutschen. Oder eben auf außer- oder übernatürliche Ereignisse und Wesen (und hier denke ich nun, etwas gewagt, ebenso an die ‚Schwarze Romantik‘ mit ihren Schauerromanen wie an die Auseinandersetzung mit Platons Ideenlehre bzw. Kants ‚Ding an sich‘).
Die französische Romantik aber kämpfte zunächst den Kampf gegen den eigenen Klassizismus, den im Deutschen bereits die – bei uns üblicherweise nicht der Romantik zugerechneten – Aufklärer Bodmer, Breitinger und Wieland ausgefochten hatten und den der Sturm und Drang dann endgültig erledigte. Das führt im Französischen dazu, dass, was wir im Deutschen als Sonderströmungen empfinden, dort in Bausch und Bogen der Romantik zugerechnet wird. (Was sich wiederum zeigt, um vorzugreifen, in den Zitaten, die Nodier seinen einzelnen Kapiteln voran stellt: Da sind mit Tasso, Shakespeare und Ossian die Hausgötter des Sturm und Drang ebenso vertreten wie sie selber mit Goethes Götz von Berlichingen oder Schillers Räubern. Selbst Klopstock kommt, mehr als ein Mal, zu dieser Ehre und gehört für Nodier offenbar in dieselbe Schublade.) Die zweite Phase der französischen Romantik, die vor allem von Mme de Staël und Chateaubriand geprägt war, muss als mystizistisch-katholisch bezeichnet werden und ist stark beeinflusst durch ähnliche Strömungen der späteren deutschen Romantik.
Irgendwo zwischen erster und zweiter Phase liegt dann Jean Sbogar. Nodier, der eine entomologische Dissertation verfasst hat (!), fand den Stoff dazu, als er in den damals so genannten ‚Illyrischen Provinzen‘ Napoléons eine Stelle als Bibliothekar angetreten hatte. Dass er diese Stelle in der napoleonischen Administration erhielt, obwohl er Royalist war und sogar für ein antinapoleonisches Gedicht eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, weist übrigens auf eine recht mächtige Protektion hin, die der uneheliche (aber legitimierte) Sohn eines Bürgermeisters von Besançon auch nach dem Tod seines Vaters noch genoss.
Jean Sbogar stellt den wohl ersten Schauerroman der französischen Literatur dar. Seine Wurzeln sind vielfältig. Nodier selbst gibt zu Protokoll, dass er in seiner Zeit in Illyrien auf die Geschichte eines echten Räubers namens ‚Sbogar‘ gestoßen sei. Aber natürlich gibt es auch literarische Wurzeln für seinen Helden und dessen Geschichte. Schillers Räuber ragen natürlich heraus, aber auch den heute selbst im deutschen Sprachraum nicht mehr bekannten Heinrich Zschokke mit Abällino muss man erwähnen (erwähnt auch Nodier in seinem für eine spätere Ausgabe verfassten, hier aber ebenfalls abgedruckten Vorwort). Die im Roman erzählte Liebesgeschichte ihrerseits erinnert aber an den Mönch von Matthew Gregory (genannt „Monk“) Lewis.
Vor mir liegt die erste vollständige deutsche Übersetzung des Romans, erschienen dieses Jahr (2024) im Flur Verlag der Übersetzerin Alexandra Beilharz. Sie griff dafür zurück auf eine erste Übersetzung von August von Hogguer, die 1835 (also nur wenig nach dem Erscheinen der ersten anonymen Ausgabe von 1818) erschien. Diese Übersetzung wurde frei bearbeitet von Johannes Mumbauer 1914 noch einmal herausgegeben. Beiden Übersetzungen ist es gemeinsam, dass man Teile, die für weniger interessant gehalten wurden, einfach wegließ. (Was auch darauf hinweist, dass sich die Lesegewohnheiten schon bald nach dem Erscheinen des Jean Sbogar zu ändern begannen. Man kam weg vom intensiven und hin zum extensiven Lesen. Will sagen: Man las nicht mehr ein einziges Buch noch und noch sondern man las sich durch ganze Bibliotheken. Wie denn auch die Leihbibliotheken zu jener Zeit florierten. Schon damals galt, was man aktuell Booktokerinnen vorwirft: Man las nur noch die interessanten Teile, die mit Handlung.)
Dieser freie und eigenwillige Umgang mit der Vorlage war unter den Übersetzern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Usus. Hier betrifft es vor allem Kapitel XIII – eine aphorismenartige Sammlung von Reflexionen des Protagonisten Lothario. Diese hat tatsächlich keinen weiteren Einfluss auf die eigentliche Handlung. Sie dient vor allem einer genaueren Charakterisierung des rätselhaften Mannes, den Lothario darstellt. Der erweist sich darin denn auch als echter Sturm und Drang-Mensch, als Kumpel von Karl Moor und Götz von Berlichingen.
Wer dieses Buch liest, sollte sich bewusst sein, dass das ausgehende 18. und das frühe 19. Jahrhundert anders gelesen haben als wir heute. Demzufolge wurde auch anders geschrieben. ‚Action‘ im eigentlichen Sinn ist nicht vorhanden. Den Grusel, den vor allem die beiden Protagonistinnen empfinden, können wir heute nicht mehr oder zumindest nicht so ganz nachvollziehen. Wer nicht literaturgeschichtlich interessiert ist, wird in Jean Sbogar vor allem eines finden: immer wieder eingestreute herrliche Landschaftsbeschreibungen. Alleine dafür lohnen sich die rund 250 Seiten Lektüre, finde ich. (Abgesehen davon: Die beiden Dumas oder auch Jules Verne haben nicht besser oder anders geschrieben. Dass sie heute immer noch in aller Munde sind, verdanken sie vor allem kürzenden Bearbeitungen ihrer Texte.)
Charles Nodier: Jean Sbogar. Ein romantischer Räuberroman. Aus dem Französischen von August von Hogguer und Johannes Mumbauer, überarbeitet und teilweise neu übersetzt von Alexandra Beilharz. Heidelberg: Flur Verlag, 2024.
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
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