Wir schreiben das Jahr 2024. Zwei nicht mehr ganz junge Männer begeben sich zusammen auf einen Trip nach Nepal. Sie sind Freunde, beides Schweizer, wenn auch von unterschiedlichem Charakter und Neigungen. Frank Baumann, der eine, war einmal in der Werbung tätig, arbeitete später als Moderator in Radio und Fernsehen, in welch letzterem er auch eine Zeitlang eine Satire-Sendung (Ventil) präsentierte, die ihn zu einem der unbeliebtesten Männer der Schweiz machte. Zusammen mit seiner Frau (die, soweit ich weiß, den Lead hat) betreibt er heute die Wörterseh GmbH. Der andere, André Lüthi, ist Verwaltungsratsvorsitzender einer der größten Reiseveranstalter der Schweiz. In die Reisebranche ist er als Quereinsteiger nach einer Lehre als Bäcker und Konditor gekommen und hat dort zunächst ganz unten angefangen. Seinen Aufstieg verdankte er nach eigenen Aussagen auch seiner immensen Reiselust.
Das Buch stellt eine Biografie von André Lüthi dar, ist aber zugleich ein Bericht über die gemeinsame Reise nach Nepal und ein Protokoll ihrer dort geführten Gespräche. Die beiden sind, wie gesagt, befreundet – man darf also keine allzu kritischen Fragen erwarten. Tatsächlich gelingt es Baumann, den Ton eines Gesprächs zwischen zwei Freunden, die sich auch schon mal frotzeln, genau zu treffen. Er bringt aber auch ein paar gelungene metatextliche Marotten ein, so, wenn er eine Passage, die er sich selber als Sprecher zuschreibt, nach André Lüthi nicht sagen darf und deshalb mit der Vorbemerkung „Gut, ich darf nicht sagen:“ wiederholt – durchgestrichen. Oder wenn er für einen Satz, der im Chor gesprochen werden müsste, dies andeutet mit Buchstaben, die über ihrem eigenen Schatten schweben. Dann wieder werden Zitate und ähnliches präzise verortet, was Lüthi zur Frage veranlasst, ob er (Baumann) denn das alles auswendig wisse. Natürlich nicht, meint die Figur Baumann, aber er habe dies bei der Niederschrift der Aufnahmen rasch mit Google gesucht. So kommt es, dass die beiden Männer in diesem Text auch schon Dinge im Gespräch äußern, die sie erst in der Zukunft äußern können. Laurence Sterne lässt grüßen. Dass alle externen Referenzierungen so zu Stande gekommen sind, will ich jetzt nicht behaupten, aber zumindest können wir feststellen, dass neben einem Gedicht von Erich Kästner auch Augustinus von Hippo und Heraklit zitiert werden, ebenso das Trolley-Problem.
Lüthi ist ein Self-made-Man mit vielen für solche Leute typischen Eigenheiten. Immer und immer wieder wendet er sich gegen jene Sorte von Führungskräften, die ihre Position nur ihren Seilschaften verdankt und nicht professionellen Kompetenzen. Gekoppelt wird dies jedes Mal mit Kritik an Studierten und Diplomierten. Das könnte langweilig werden, aber Baumann entschärft die Situation, indem er seinen Freund jedes Mal darauf hinweist, dass er nun abermals im Begriff sei, die alte Leier anzustimmen, worauf dieser jeweils antwortet: „Lass mich, ich bin noch lange nicht fertig!“ Den Lesenden wird damit ironisch signalisiert „Wir wissen beide, dass wir uns wiederholen“ und zugleich wird eine wesentliche Wesenseigenschaft Lüthis herausgestellt.
Wenn zwei meinungsstarke Menschen miteinander diskutieren, fallen natürlich auch Aussagen, bei denen Außenstehende den Kopf schütteln mögen. Den Zusammenhang zwischen wilden und noch das ganze Haupt bedeckenden Haaren und der Virilität des Trägers dieser Haarpracht ist so eine Aussage. Wie überhaupt der Themenkreis „Frauen“ bei Lüthi etwas heikel ist – privat wie beruflich. (Nichts Schlimmes, behüte, aber der Mann älterer Schule zeigt sich halt doch hin und wieder.) Wenn ich bei solchen Passagen nur den Kopf schüttelte, gab es, offen gesagt, auch welche, die ich einfach nur quergelesen habe – immer dann nämlich wenn Lüthi allzu lange und offensichtliche (wenn auch in gewisser Hinsicht charmante) Schleichwerbung für seine Firma einflocht.*) Da halfen dann selbst die witzig-kritischen Bemerkungen Baumanns nicht mehr.
Summa summarum: Einmal mehr, wie seinerzeit bei der Autobiografie Röbi Kollers in einem .ch-Blog ein Buch eines Schweizer Verlags von einer bzw. über eine vor allem in der Schweiz bekannte Persönlichkeit. Ich für meinen Teil übrigens wusste vor der Lektüre dieses Buchs nicht einmal von der Existenz André Lüthis. Selbst Kunde seiner Reisefirma war ich nie. Aber wenn André Lüthi von Entdeckungsreisen zu fremden und vom Tourismus noch nicht oder kaum berührten Völkern schwärmt, weil ihn dies immer auch über sich selber nachdenken lässt, so sind für mich solche Bücher zu mir fremden Charakteren in gewissem Sinn auch immer Entdeckungsreisen ins eigene Ich. Insofern konnte ich das Buch durchaus mit Profit lesen und empfehle es auch gerade Menschen, die wenig oder nichts von den Charakterzügen Lüthis (oder Baumanns, quant à ça) an und in sich tragen.
Im Übrigen finden wir in der Mitte des Buchs einen recht umfangreichen Teil mit Fotografien aus dem Leben des André Lüthi – Bilder von der Reise mit Baumann inbegriffen. Und wer mag, kann auch ein von Lüthi unterstütztes Straßenkinder-Hilfswerk NAG unterstützen. (Das selbstverständlich von den beiden bei ihrem Besuch vor Ort ebenfalls besucht wurde.)
*) Ich nenne die Firma absichtlich nicht. Wer kurz eine Internet-Suchmaschine anwirft, wird binnen weniger Sekunden herausfinden, wie sie heißt.
Frank Baumann: Karma. Lachen: Wörterseh, 2024.
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.