Das Werk Leben und Meinungen berühmter Philosophen von Diogenes Laertius1) gilt als so etwas wie die erste Geschichte der Philosophie in der Philosophiegeschichte. Dabei, denke ich, hat Diogenes wohl kaum so etwas wie eine Philosophiegeschichte im Sinne gehabt. (NB: Ich spreche von Diogenes Laertius wie von einer Einzelperson. Tatsächlich wissen wir nichts über den Menschen, der hinter dem Namen steckt, im Grunde genommen nicht einmal, ob hier von einem oder von mehreren (und falls mehreren: im Kollektiv oder sukzessive) daran gearbeitet wurde. Das Werk in seiner überlieferten Form muss ungefähr im 3. Jahrhundert u.Z. entstanden sein – jedenfalls sind keine Philosophen aufgeführt, die später gelebt haben. Mehr wissen wir nicht.)
Wie aber staunt der heutige Leser, wenn er sich durch das Werk durcharbeitet. Diogenes Laertius ist weit davon entfernt, eine exakte Darstellung der Meinungen seiner Philosophen zu geben. Das meiste, was er bringt, stammt aus dritter oder vierter Hand. Es ist, als ob er selber seinerseits nur Kollektaneen ausgeräubert hätte. In Bezug auf das Leben figurieren häufig nichtssagende Anekdoten – ja, man wird den Eindruck nicht los, Diogenes Laertius hätte es vor allem darauf abgesehen, seinen Philosophen Schweinisches nachsagen zu können. Dennoch ist er – zusammen mit Aulus Gellius, dessen Attische Nächte ähnliche Schwächen aufweisen – eine der raren halbwegs zeitgenössischen Quellen, und – wieder mit Aulus – einer der wenigen, der zumindest hin und wieder ein Originalzitat aufweist, selbst wenn es natürlich aus jedem Zusammenhang gerissen wurde. Bei aller Kritik an Diogenes und Aulus (und aus heutiger Sicht sind sie unmöglich): Ohne sie wüssten wir noch weniger über die Philosophie der Antike.
Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis bietet Interessantes. Leben und Meinungen berühmter Philosophen ist in zehn Bücher gegliedert. Die meisten Bücher umfassen jeweils mehrere Philosophen. Nur deren zwei haben je eine ganzes Buch für sich alleine: Platon und – nein, nicht Aristoteles, sondern Epikur. Die nächste Überraschung folgt bei der Lektüre: Buch X ist ganz anders als die andern Bücher. (Anders auch als Buch III, das über Platon.) In Buch X verzichtet Diogenes auf seine deplatzierten Anekdötchen. Und er zitiert tatsächlich Originalbriefe Epikurs. Ja, er zitiert sie offenbar in voller Länge.
Zuerst gibt Diogenes Laertius einen Abriss von Epikurs Leben2). In der Physik wird Epikurs Abhängigkeit von Demokrit etabliert: Demokrit war der erste, der mit Atomen und dem Vakuum operierte. Epikur hat das von ihm übernommen. (Man sollte sich hüten, hierin schon gesichterte wissenschaftliche Erkenntnisse zu sehen, und zu behaupten, dass schon die alten Griechen wussten… Sie wussten gar nichts. Sie haben einfach behauptet, ohne zu beweisen, ohne beweisen zu können. Noch Kant konnte in seinen frühen physikalisch-astronomischen Schriften einfach behaupten ohne zu beweisen. Damit hat erst das 19. Jahrhundert endgültig aufgeräumt – endgültig jedenfalls, was die Wissenschaft betrifft.)
Schon zu Diogenes‘ Zeit muss Epikur einen schlechten Ruf genossen haben. Er soll Essen, Trinken und den Geschlechtsgenuss als höchste Güter betrachtet haben, sich zweimal am Tag übergeben, damit er wieder von neuem in sich hineinstopfen könne, seine Vorgänger habe er geschmäht. Diese Aufzählung schliesst Diogenes mit den Worten: „Doch sie [die von ihm zitierten Schmäher Epikurs – P.H.] sind alle nicht recht bei Sinnen.“ Und nun tritt Diogenes zum Gegenbeweis an. Den angeblichen Streithammel Epikur widerlegt er damit, dass – mit einer einzigen Ausnahme – nie ein Schüler Epikurs Garten wieder verlassen hat, während die andern philosophischen Schulen in Athen laufend Kunden verloren (oft an Epikur!). Seine angeblichen Schwelgereien bestehen nachweisbar nur darin, dass er einmal von einem Schüler sich eine bestimmte Käsesorte gewünscht hat. Zusammen mit Wasser und Brot will er damit „einmal so recht schwelgen“.
Als nächstes liefert uns Diogenes das Testament des Epikur. Er trifft darin Bestimmungen für seine Nachfolge als Leiter des Gartens, in dem die Epikuräer philosophierten, für das Haus, zu dem der Garten gehört, für die Kinder seiner vor ihm verstorbenen Brüder, für die jährlich wiederkehrenden Rituale zu seinem und seiner Brüder Gedenken – nichts Aussergewöhnliches also. Es folgt eine Liste von Epikurs Werken. Wenn die stimmt, muss Epikur Zeit seines Lebens nicht viel anderes gemacht haben, als zu lehren und zu schreiben. Über 40 Titel führt Diogenes Laertius auf, davon umfasst alleine das Hauptwerk Von der Natur 37 Bücher! Welch ein Jammer, dass praktisch das gesamte Werk des Epikur verloren ging. Seine naturwissenschaftlichen Anschauungen finden wir nur noch in Lukrez‘ De Rerum Natura erhalten – insofern es denn überhaupt exakt die seinen sind.
Immerhin hat uns Diogenes einen Brief Epikurs an Herodot erhalten, in dem er eine kurze Skizze seiner naturwissenschaftlichen Anschauung gibt: Aus nichts wird nichts; die Atome hat es also immer schon gegeben, und es wird sie immer geben. Sie sind unsichtbar, aber unteilbar, es gibt ihrer unzählig (aber nicht unendlich!) viele, in unzählig (aber nicht unendlich!) vielen Formen. Diese Formen sind fix. Das „Leere“ wird benötigt, damit sich das Seiende überhaupt bewegen kann. Auch die „Seele“ ist ein Agglomerat von Atomen – und somit körperlich! Es gibt Götter, die glückselig und unvergänglich sind. Es ist aber Teil ihrer Glückseligkeit, dass sie mit dem irdischen Treiben gar nichts zu tun haben. Damit ist aber auch die menschliche Glückseligkeit verbessert, denn wenn die göttlichen Wesen quasi ausser Konkurrenz antreten, muss der Mensch seine eigene Glückseligkeit nicht an der der Götter messen, er muss auch nicht sinn- und hoffnungslose Bitten an diese Götter verschwenden, da sie sich in keinem Fall um die Menschen kümmern werden. Der Tod ist für den Menschen nichts Schreckliches, denn (wohl Epikurs berühmtestes Diktum), wo der Tod ist, ist der Mensch nicht mehr, und wo der Mensch ist, ist der Tod (noch) nicht. Er geht mich also nichts an. Der Weise wird seine Begierden mässigen; Genügsamkeit ist für Epikur ein grosses Gut. Auch der Weise wird, wenn man ihn foltert, seufzen und stöhnen, denn er ist nicht über alle menschlichen Gefühle erhaben, soll es auch nicht sein. Epikurs Lehre ist hierin viel ‚menschlicher‘ als die der Stoa, die aus der epikuräischen Ataraxie eine weit überhöhte Apatheia bildete – wie sie generell hehre Tugenden und übermenschliche Ideale, anders als der auch hierin genügsamere Epikuräismus, bevorzugte.
Den Schluss von Buch X – und vom ganzen Werk Leben und Meinungen berühmter Philosophen von Diogenes Laertius – bildet dann eine Zusammenstellung der wichtigsten Lehrsätze des Epikur in 40 Paragraphen.
Eigentlich ist also nur Buch X eine wirkliche, eine brauchbare philosophiegeschichtliche Darstellung in heutigem Sinn. Und dieses Buch bietet eine Rechtfertigung Epikurs. Das ist umso erstaunlicher, als Epikur schon zu Diogenes‘ Zeit als sittenloser Strolch verrufen war. (Bleibt nachzutragen, dass Buch X von den folgenden Philosophen und Kirchenvätern offenbar grosszügig ignoriert worden ist. Anders ist es nicht zu erklären, warum noch im 17. Jahrhundert ein Pierre Gassendi erneut zu einer Rehabilitation Epikurs schreiten musste.)
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1) Gelesen in der Ausgabe der Philophischen Bibliothek, Bd. 53/54, hg. und übersetzt von Otto Apelt, Hans Günter Zekl und Klaus Reich. Hamburg: Felix Meiner, 1998.
2) Epikur wurde übrigens hier schon einmal in unserm Blog dargestellt.
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