Dieser Text stellt – zusammen mit den Sokratischen Denkwürdigkeiten – so etwas wie den essentiellen Hamann dar. Den Hamann in nuce sozusagen, jedenfalls den Hamann der ersten Schaffensperiode, den Hamann, der sich seines Denkens und seiner Methode sicher geworden ist.
Die Aesthetica in nuce wurde 1760 von Hamann zum ersten Mal veröffentlicht, also ein Jahr nach den Sokratischen Denkwürdigkeiten, 1762 dann nochmals in einen Sammelband, betitelt Kreuzzüge des Philologen. Ästhetik, Philologie – Hamanns hermetischer Schreibstil zeigt sich schon in der Wahl seiner Titel. Er will keine Philosophie schreiben – tönt er jedenfalls an. Tatsächlich geht es ihm auch in der Aesthetica in nuce um seinen philosophischen Kampf gegen die (platte) Aufklärung. „Ästhetik“ war zu Hamanns Zeit noch mehr als eine Theorie der Kunst, „Ästhetik“ war im Sprachgebrauch der Aufklärer die Wissenschaft von der (niedrigen) sinnlichen Erkenntnis. „Niedrig“ deshalb, weil ihr die „höhere“ Erkenntnis durch Vernunft entgegen gesetzt wurde.
Johann Georg Hamann spielt mit der doppelten Bedeutung des Worts. Einerseits ist es sein Ziel, die Ästhetik auf ihr Essenzielles einzuköcheln. Die angeblich niedrigere sinnliche Erkenntnis ist in Wahrheit die einzige menschlich mögliche. Die Natur ist der Führer des Menschen. Vermittler ist die Kunst (deren Vermittler wiederum die Ästhetik als die Lehre vom Schönen), die die Natur nachahmt. Innerhalb der Kunst ist es die Poesie, der der erste Rang zukommt.
„Natur und Schrift sind also die Materialien des schönen, schaffenden, nachahmenden Geistes – – Bacon vergleicht die Materie der Penelope; – ihre freche Buhler sind die Weltweisen und Schriftgelehrten.“
Bacon! Bekämpft Hamann demnach die Aufklärung mit dem frühen Empirismus? Einerseits: Ja – nämlich wenn es um die „Natur“ geht. Andererseits ist die „Schrift“ nicht (nur) die Fähigkeit des Schreibens, nicht einmal nur die Poesie – es ist in Hamanns Sprachgebrauch natürlich auch und vor allem die sog. „Heilige Schrift“ gemeint – die Bibel. Der Begriff „Schrift“ hebt die Poesie, hebt die Kunst in einen sakralen Raum. Wie den Tempel zu Jerusalem sollte diesen Raum nicht jeder betreten dürfen. Man muss Hamanns Bacon-Anspielung fertig denken, über Bacon hinaus: Odysseus wird die Buhler aus Penelopes Schlafzimmer vertreiben, wie später Jesus die Händler aus dem Tempel und wie, so hofft Hamann sicherlich, er selber die Aufklärer mit ihrer platten Bibel-Philologie aus der Bibel und der Wissenschaft.
Hamanns Ziel ist es nicht, eine Ästhetik zu liefern im Sinne einer Theorie der Kunst oder Dichtung. Wenn der Sturm und Drang bei Hamann ausschliesslich die Parallel-, ja schon fast In-eins-Setzung, von Natur und Kunst gefunden hat, so haben diese Weltkinder in der Mitten den religiös-christlichen Charakter von Hamanns Werk völlig ausser Acht gelassen. Selbst der junge Herder, der Hamann wohl denkerisch-fühlend am nächsten stand, hat der Ästhetik im neumodischen Sinne den Vorzug gegeben und vor allem den dunkel-pathetischen Stil Hamanns nachgeahmt.
Hamanns Ziel ist restaurativ:
„Wodurch sollen wir aber die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken? – – Durch Wallfahrten nach dem glücklichen Arabien, durch Kreuzzüge nach den Morgenländern, und durch die Wiederherstellung ihrer Magie, die wir durch alte Weiberlist, weil sie die beste ist, zu unserer Beute machen müssen. – Schlagt die Augen nieder, faule Bäuche! und lest, was Bacon von der Magie dichtet!“
Ähnlich wie Bacon will auch Hamann gerne einer gewissen Mystik verfallen. Der Sprachkritiker und – philosoph Hamann schimmert hier schon ein bisschen durch, der Sprachkritiker, der die letztlich gültige Sprache in der magisch-göttlichen Offenbarung erblickt. Diese Offenbarung, diese letzte Erkenntnis, ist Hamanns Meinung nach immer eine intuitive, weshalb er sie nicht schildern kann und weshalb sie auch nicht jedem in gleichem Masse zugänglich ist. Der durchschnittliche Aufklärer jedenfalls wird keinen Zugang dazu finden, da kann Hamann noch so predigen. Hamann nimmt mit diesem seinem Konzept natürlich implizit Bezug auf sein eigenes Erweckungserlebnis in London – und wird damit der Vorreiter der heutigen Theologie, die Gott nicht mehr durch Vernunftbeweise zu etablieren sucht, sondern dadurch, dass der Gläubige ihn „fühlt“, was Beweis genug ist.
Seine Zeitgenossen, selbst seine Freunde, sahen in Hamanns post-Londoner Schriften einen Rückfall in Altbekanntes. Aber Hamann will im Grunde genommen etwas anderes, er will mehr. Indem er die Natur nicht verschönern will, wie z.B. Mendelssohn oder Lessing, sondern ihr eine eigene Berechtigung zuspricht, eine sogar übergeordnete, spricht er wohl der Vernunft ihr Primat ab, aber nicht ihre Existenz. Im Gegenteil: Für Hamann ist die Vernunft durchaus existent. Sie ist aber immer individuell, geschichtlich, situationsgebunden. Er nimmt damit vieles vorweg, das die ‚zünftige‘ Wissenschaft erst später einsah. Dieses Konzept ist interessant, in vielem auch richtig – zugleich aber sehr gefährlich. Wenn die Vernunft individuell ist, wer reguliert dann aufgrund welcher Berechtigung eine gesellschaftliche Vernunft, wie sie z.B. ein staatliches Zusammenleben erfordert? Hamann konnte hierin Rekurs nehmen auf die göttliche Offenbarung. Das können wir heute nicht mehr; und das macht es so schwierig, Hamann zu verstehen. Und nun gar ihm folgen wollen…
Leider verliert sich Hamann gegen Schluss der Aesthetica in nuce in einer recht redundanten Analyse von (homerischen) Versmassen. Oder soll dies nur als weiterer Schleier dienen, den er der Wahrheit (seiner Wahrheit) überstreift? Hamanns kleines Werk ist aufgrund seiner hermetischen Struktur de facto unerschöplich…
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