Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Erster Theil: Die Metaphysik des Schönen

Vischers Aesthetik ist vielleicht der letzte Versuch in der Philosophiegeschichte, die Wissenschaft des Schönen systematisch und in einem grossen Wurf darzustellen. Sie umfasst denn auch mehrere Tausend Seiten und deckt die gesamte Spannbreite künstlerishcer Tätigkeiten einerseits, philosophischer Werke darüber andererseits, ab.

Vischer beginnt ganz abstrakt mit der Metaphysik des Schönen, mit andern Worten: mit der Definition des Begriffs ‚Metaphysik‘. Zugleich beginnt er philosophiegschichtlich mit den alten Griechen und stellt das Schöne dem Guten gegenüber, der Religion, dem Wahren. Ihm in diesen Ausführungen zu folgen, ist nicht ohne Probleme. Vischers politische Aktivitäten zeigen ja schon, dass er auf der Seite der Linkshegelianer zu finden war – Hegelianer ist er auch als Philosoph. Dialektischen Bewegungen abstrakter Entitäten muss man folgen können oder wollen. Mein Ding ist so etwas nicht.

Die Nothwendigkeit der dialektischen Bewegung des Gedankens durch die drei Momente, welche Hegel durch Ansich, Fürsich und An und Fürsich bezeichnet hat, und die draus folgende dreigliedrige Einteilung des ganzen Systems kann die Aesthetik als ein in der jetzigen Philosophie anerkanntes Grundgesetz einfach hinstellen. Selbst die Mehrzahl derjenigen, welche über das Hegel’sche System in den metaphysischen Grundlagen hinausstreben, meint, den Inhalt zwar bestreiten, die Form aber, nämlich eben die Dialektik und ihre Momente, gelten lassen zu können. S. 21

Das macht den Ersten Theil schwer geniess- und kaum verdaubar. Zum Glück aber ändert sich das noch im Verlauf des ersten, hier zu besprechenden Bandes. Je konkreter Vischer wird, um so weniger ‚hegelianert‘ er. Das ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass er, je konkreter es wird, sich um so weniger an Hegel orientiert für den Rahmen seines Denkens und dafür mehr an Schelling, das liegt aber auch daran, dass er überhaupt, sobald es konkret wird, sich mit andern Denkern auseinander setzt. Grob gesagt, führt ihn die dialektische Bewegung von der Auseinandersetzung mit dem Guten, dem Religiösen und dem Wahren hin zum Schönen im Widerstreit seiner Momente, dem Erhabenen. Nebenbei will er herausgefunden haben, dass der Künstler im Grunde genommen immer Pantheist sein muss. Im Erhabenen unterscheidet er dann das Tragische vom Komischen. An und für sich sind die Untersuchungen dazu der bessere Part des ersten Theils, aber man muss dem Literaturwissenschafter Vischer doch vorwerfen, dass er hier spezielle Momente der Literatur (ja, sogar eines speziellen Zweigs der Literatur, nämlich des Dramas) verallgemeinert als allgemein gültige Momente jeder Kunstform.

Allerdings zeigt sich, dass der Professor für Aesthetik und deutsche Literatur über profunde Kenntnisse seiner Vorgänger in aestheticis verfügt. Aristoteles‘ Poetik (von der er selber sagt, dass sie den Nachteil hat, nur vom Drama zu handeln), Euripides als den Dichter des Tragischen; von den Philosophen des Idealismus sind fast alle, (nämlich Kant, Hegel und Schelling) prominent vertreten. Aber auch Schillers und Lessings Schriften zur Ästhetik werden zitiert. Selbst heute nur noch dem Spezialisten bekannte Vorgänger und Zeitgenossen im deutschen Sprachraum, wie Baumgarten (ein Schüler Wolffs und damit Leibniz‘) oder Weisse (Linkshegelianer wie er selber) kennt und zitiert er. Ja, ihm ist sogar Hirts absolut belang- und bedeutungsloses Elaborat in den Horen bekannt, oder der eben dort losgetretene Streit um Fernow. Und wo es ums Komische geht, ist Vischers Aesthetik in hohem Masse auch eine Auseinandersetzung mit der ersten Schrift zu Ästhetik, die das Komische ernst genommen hat, mit Jean Pauls Vorschule der Ästhetik.

Diese kurze Skizze des ersten Theils zeigt hoffentlich schon die Vorzüge (und damit zugleich die Nachteile) dieser Ästhetik: Vischer ist stark von der deutschen Klassik und dem Idealismus beeinflusst und versucht, deren ästhetische Versuche abzuschliessen und/oder zu verbessern. Man folgt ihm – wo er nicht allzu sehr ‚hegelianisiert‘ – gern darin, paart er doch profundes Wissen mit einem angenehmen Stil.

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