Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik

Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. 2 Bände. Lateinisch-deutsch. Hamburg: Meiner, 2007. (= Philosophische Bibliothek 572 a+b.)

Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) gilt als der ‚Erfinder‘ der philosophischen Disziplin der Ästhetik. Sein bahnbrechendes Werk (wie es so schön heisst) erschien in zwei Bänden 1750 und 1758. Trotz seines gewaltigen Umfangs (alleine der Textteil umfasst in meiner Ausgabe rund 950 Seiten – das gibt in jeder Sprache weit über 400 ziemlich klein und eng bedruckte Seiten) ist Baumgartens Ästhetik ein Fragment: Von seinem in Band I umrissenen Plan konnte er nicht einmal den ersten, der ästhetischen Theorie gewidmeten Teil abschliessen: Methodologie und Semiotik fehlen, ebenso der zweite Teil, die praktische Ästhetik.

Baumgarten hat schon sehr früh die Philosophie Wolffs rezipiert und auch expliziert – zu einer Zeit, als diese an seiner Universität (Frankfurt/Oder) noch verboten war. Das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Schule zeigt sich in den grundlegenden Prinzipien der Ästhetik. Für Baumgarten steht die Ästhetik gleich neben der Logik. Beide sind bei ihm Instrumente der Erkenntnisgewinnung1). In einer Vorlesungsnachschrift zu Baumgartens Ästhetik wird das in etwa so dargestellt: An der Spitze finden wir die Wahrheit (veritas) als anzustrebendes Gut. Die Wahrheit unterteilt sich in eine metaphysische und in eine subjektive, die subjektive Wahrheit wiederum in eben eine logische und eine ästhetische, zusammengefasst als ästhetikologische Wahrheit.

Die Ästhetik ist für Baumgarten die Erkenntnis der niederen Organe2), der Sinne; die Logik dementsprechend die der höheren, des Geistes. Somit gibt es für Baumgarten auch so etwas wie eine natürliche Ästhetik, da jeder Mensch mehr oder minder über Geschmack verfügt. Selbstverständlich soll diese natürliche Ästhetik geübt werden, und so will Baumgarten denn auch aufzeigen, woran wir diese schulen sollen. Dieser theoretischen bzw. allgemeinen Ästhetik ist denn auch alles gewidmet, was er zum Thema in diesen zwei Bänden veröffentlicht hat.

Es ergibt sich aus Baumgartens Konzeption, dass seine Beispiele / Vorbilder praktisch alle aus der Dichtkunst stammen – Horaz‘ Aut prodesse volunt aut delectare poetae wirkt nach. Baumgarten interpretiert dieses prodesse als Erkenntnisgewinn durch Dichtung. Dass alle andern Künste ausser der Dichtkunst ignoriert werden, hängt damit zusammen, dass die andern Künste zu seiner Zeit über keine ausformulierte Theorie verfügten, sowie damit, dass Baumgartens enger Zusammenschluss von Logik und Ästhetik letztere sehr stark aufs Wort, auf den Begriff, ausrichtet.

Für die Dichtkunst wiederum steht zu Beginn des 18. Jahrhunderts immer noch fast ausschliesslich die antike römische Literatur. Als Theoretiker finden wir natürlich Horaz mit seiner oben schon angezogenen Ars Poetica, daneben vor allem Cicero und dessen Werke zur Rhetorik. Die Rhetorik nämlich gilt Baumgarten als die Tochter der Ästhetik; sie ist für ihn das Instrument, um das richtige Licht(!) auf die Dinge zu werfen. Cicero finden wir aber auch als ästhetisch-rhetorischen Praktiker wieder, so z.B. mit seinem Werklein De Natura Deorum (was, nebenbei, Baumgartens Position schön illustriert: Ästhetik als Instrument der subjektiven Erkenntnisgewinnung neben die Metaphysik gestellt – das Ganze der Wahrheitsfindung dienend). Daneben wird auch oft aus den verschiedenen Werken Vergils zitiert. Aber auch Ovid fehlt nicht, vor allem die Tristia und die Epistulae ex Ponto. Das grosse Gewicht der Rhetorik zeigt sich darin, dass der ganze zweite Band im Grunde genommen ein Lehrbuch der Rhetorik darstellt, zeigt sich auch darin, dass der antike Rhetorik-Lehrer und Cicero-Kommentator Quintilian neben ebendiesem Cicero und Horaz der am meisten zitierte Autor ist.

Eine sauber und klar strukturierte Arbeit, der man kaum anmerkt, dass sie im Grunde genommen Fragment ist. Als theoretischer Text zur Ästhetik / Rhetorik dem von Vischer bei weitem vorzuziehen.


1) Logik als Mittel zur Erkenntnisgewinnung finden wir auch bei Leibniz, s. meinen Blog-Eintrag zu Leibniz‘ Logik hier.

2) Dass er die Ästhetik auch schon mal organisch nennt, hängt aber nicht direkt mit menschlichen Organen irgendwelcher Art zusammen, sondern damit, dass Baumgarten auch die Ästhetik, wie andere schon die Logik, nach Aristoteles‘ Organon strukturiert sehen möchte.

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