Richard Lorenz: Amerika-Plakate

Ihr müßt nicht fragen, was das soll. Das soll gar nichts. Das bedeutet gar nichts. Vielleicht gehört das Buch auch gar nicht in diese Zeit, und es bringt uns sicherlich nicht weiter. Es hat keine Probleme und weiß von keinen Zweifeln und Fragen. Es ist ganz unbedenklich. Unbedenklich wie Kleist. (Peter Panter [aka Kurt Tucholsky] zu Kafkas “In der Strafkolonie”, Die Weltbühne, 03.06.1920, Nr. 23, S. 655.)

Nein, wir wollen nicht übertreiben. Weder bin ich Kurt Tucholsky noch ist Richard Lorenz Franz Kafka. Zwar kann man Lorenz wie Kafka im weitesten Sinn der phantastischen Literatur zurechnen, aber ihre Themen sind dann doch unterschiedlich genug.

Lorenz’ Welt ist das Deutschland der 1970er, 1980er, 1990er – gesehen durch die Brille eines Aussenseiters namens Leibrand. Leibrand wird in prekären Familienverhältnissen gross. Sein Vater ist Alkoholiker und schlägt im Suff regelmässig seine Frau. Dass Leibrand nicht geschlagen wird, hat seinen Grund darin, dass der Junge sich im Kleiderschrank in seinem Zimmer versteckt, wo zu suchen dem Vater offenbar nie in den Sinn kommt. Wenn der Lärm und das Toben im Erdgeschoss dann allzu laut werden, flüchtet sich Leibrand noch weiter – in eine Traumwelt namens Amerika. Genauer ist es New York, noch genauer Brooklyn, wohin er sich zurückzieht. Leibrands Brooklyn ist für ihn, was Neverland für Peter Pan ist: Der ultimative sichere Hafen, wo seine Probleme nicht hinkommen oder wenigstens nicht relevant sind. (Leibrands Neverland ist allerdings eines für Erwachsene: Man kriegt in Brooklyn Schnaps und Zigaretten!) Leibrands Brooklyn ist das Traumland, in das sich auch Figuren von Lord Dunsany oder Lovecraft (in seinen ‘helleren’ Geschichten, nicht in den Erzählungen um den Cthulhu-Mythus!) träumen. Leibrand transportiert sich dahin, indem er Plakate malt, Hunderte davon, manche nur von der Grösse einer Postkarte, manche gar wirklich einfach übermalte alte Postkarten. Sein Motiv ist ausschliesslich Amerika = New York = Brooklyn. Leibrands Lieblingsfarbe beim Malen ist Blau – die Farbe der Hoffnung, die Farbe auch der romantischen Blume. (Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ist ja auch so ein Träumer.)

Nach den Massstäben der realen Welt ist Leibrand ein Looser, fast ein Randständiger (und sein Name ist deshalb wohl kein Zufall!), aber immer gerade mit genug Geld versehen, um nicht ganz aus der Gesellschaft zu kippen (wie er von Zeit zu Zeit von Parkbänken kippt – einfach so), ein schwerer Raucher und Trinker, zwischendurch auch schon mal in einer Psychiatrischen Klinik interniert. Er ist harmlos, aber nutzlos. Das heisst – für seine Bekannten und Freunde ist er nicht so ganz nutzlos. Dank ihm kommen auch sie in den Genuss jenes Paradieses, das er in seinem imaginären Brooklyn gefunden hat. Ihm selber wurde das Paradies geöffnet, als er 11 Jahre alt war, durch ein gleichaltriges rothaariges Mädchen namens Suzanne, die ihn küsst – ihn, den unscheinbaren Jungen, auf dem Jahrmarkt in der kleinen Stadt, wo sie beide leben. Die Rechtschreibung des Vornamens ist kein Zufall. Neben der Malerei spielen auch Musik und Literatur eine grosse Rolle in Leibrands Leben. Seine Lieblingsmusik ist – wen wundert’s? – amerikanisch: Jazz (Charlie Parker), Elvis Presley und vor allem die beiden grossen Singer-Songwriter der amerikanischen Pop-Musik: Bob Dylan und Leonard Cohen. In der Literatur sind es ebenfalls die Amerikaner, die Leibrand inspirieren – hier vor allem Paul Auster (mit dessen Spielart von fantastischer Literatur Richard Lorenz’ Roman tatsächlich mehr gemein hat, als mit der Kafkas, obwohl Auster seinerseits sich klar an Kafka orientiert) und Ray Bradbury (dessen Sehnsucht nach einem heilen Amerika – das bei Bradbury konservativ und rückwärts orientiert ist – Lorenz teilt). Suzanne und Amerika gehören für Leibrand den Rest seines Lebens zusammen – Suzanne ist die Königin seines fiktiven Brooklyn.

Leibrands Leben wird nach dessen Tod von einem anonymen Ich-Erzähler mitgeteilt. Der Ich-Erzähler hat offenbar den Knaben Leibrand gekannt, ihn dann später aus den Augen verloren, weil er selber ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft geworden ist. (Er spricht gleich zu Beginn von Frau und Kindern, die er sehr liebe.) Leibrand ist dem Erzähler in Erinnerung gerufen worden durch Pakete, meist welche mit Leibrands Bildern als Inhalt, die er von Zeit zu Zeit anonym bzw. mit so seltsamen Absendern wie Brooklyn, New York erhält.

Lorenz’ Roman lässt sich nicht zusammenfassen. Lorenz schildert fantastische Ereignisse, in denen sich Realität und Traum mischen. Diese Mischung ist ihm ausgezeichnet gelungen. Dem Roman ist eine fast duftenden Leichtigkeit eigen, wie ich sie z.B. von Paul Scheerbart kenne, an Scheerbart schätze. Es herrscht eine leise Melancholie in diesem Buch, das (fast) ausschliesslich von jenen handelt, die auf der sogenannten Verliererseite des Lebens stehen. Verlierer, aber Träumer. Und wegen ihrer Träume die eigentlichen Gewinner. So muss auch der Ich-Erzähler zum Schluss des Romans vom toten Leibrand zugeben:

Heute weiß ich, dass er Suzanne gefunden hat, und dieser Gedanke macht mich glücklich. Dieser Mann, der fiel, wenn andere standen. Dieser Mann, der von Amerika träumte und jede Ecke dort drüben kannte.
»Hier ist Brooklyn, genau hier«, hatte er damals oft gesagt.

Heute weiß ich, dass er damit recht gehabt hatte.


PS. Vielen Dank an Frank Duwald, der mich auf diesen Roman aufmerksam gemacht hat, indem er ihn selber auf seinem Blog besprochen hat, und danach auf Facebook unermüdlich die Werbetrommel für Lorenz rührte. Der Roman hat die Werbung wohl verdient.

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