J. J. Abrams / Doug Dorst: S.

Kitsch bedeutet, dass die Form den Inhalt oder den Zweck eines Dings überwuchert. Dieses Buch ist Kitsch.

Bei seinem deutschen Erscheinen letzten Herbst ging ein leises Raunen durchs deutschsprachige ‚buchaffine‘ Internet. So mancher Blogger und Literaturfori machte sich beinah ins Höschen: „Gesamtkunstwerk“, „bibliophile Kostbarkeit“ waren noch das mindeste, was ich lesen durfte. Über den Inhalt schwiegen sich dann viele derer, die S. ‚rezensierten‘, mehr oder minder aus (was schon Stefan Mesch monierte). Schauen wir uns diese bibliophile Kostbarkeit einmal vom formalen Gesichtspunkt an:

Das Buch wird in einem jener Schuber aus wahnsinnig dünnem Karton geliefert, den deutsche Verlage offenbar als schön und zweckmässig empfinden. Sie sind weder das eine noch das andere – ein Buch schützen können sie schon gar nicht. Wenn man dann ein völlig sinnloses Papiersiegel erbrochen hat, hält man das Buch in Händen. In allem, inkl. Papierschildchen auf dem Rücken und Ausleihstempel auf dem hinteren Deckblatt, ist es einem oft ausgeliehenen Bibliotheksexemplar nachempfunden. Der Einband: Leinen (könnte auch Kunstleinen sein, ich kann das nicht von einander unterscheiden). Fadenheftung. Das ist solide, aber daran ist nichts speziell Bibliophiles. Das Papier ist jenem ein bisschen seidenartig anzufühlenden nachgestaltet, das tatsächlich in den 1950ern in den USA gern in ein bisschen hochwertigeren Publikationen verwendet wurde, die Lettern ebenso. Selbst die altersbedingte Bräunung, die dieses Papier gern annimmt, ist künstlich reproduziert. (Nicht aber die Tatsache, dass dieses Papier, einmal gebräunt, auch gern einreisst – alle Seiten sind jungfräulich schön, selbst Eselsohren fehlen.) Irgendwo im Internet habe ich gelesen, dass dieses Buch nach ‚alt‘ rieche; ich kann das für mein Exemplar nicht nachvollziehen. Meins riecht einfach nach – gar nichts. (Was immerhin besser ist, als wenn das angeblich alte Buch nach neu riechen würde.) Perfekt ist die Nachahmung also keineswegs, auch den Bibliotheksstempeln oder den handschriftlichen Randbemerkungen der beiden Studenten sieht man an, dass sie nicht manuell eingefügt wurden, sondern gedruckt gleich zusammen mit dem Rest. Der Clou dieses Buchs ist aber sein Inhalt. Nein, nicht der Text, sondern die Tatsache, dass wir in diesem Buch Postkarten, Zeitungssausschnitte, ja Servietten aus der College-Mensa finden. (Essensreste, Fett- oder Kaffeeflecken hingegen suchen wir wieder vergebens.) Das ist in dem Ausmass, in dem es hier stattfindet, völlig unrealistisch, zumal ein paar Dinge dabei sind, die ‚geheim‘ bleiben sollten, z.B. der unterirdische Weg in die Bibliothek, den Eric nimmt, nehmen muss, weil er eigentlich Zutrittsverbot auf dem Campus hat. Unrealistisch ist das – und mit Bibliophilie hat das wenig zu tun. Ich würde denen, die hier von Bibliophilie reden, doch empfehlen, sich einmal ein wirklich bibliophil gestaltetes Buch anzuschauen. (Und sei es nur den Nachdruck von William Morris‘ News from Nowhere. Noch besser, das Original. Oder gar Morris‘ Spitzenprodukt – den „Kelmscott Chaucer“.)

Der Text nun, um doch etwas zum eigentlichen Inhalt zu sagen, zu dem, um dessen Willen wir ja normalerweise Bücher lesen, – der Text also besteht aus vier unterschiedlichen Teilen. Da ist zum einen der angebliche Roman Das Schiff des Theseus von einem angeblichen V. M. Straka. Da sind die Fussnoten des Übersetzers, der sich schon früh als Übersetzerin entpuppt. Dann die handschriftlichen Anmerkungen zweier Studenten: Eric und Jen. Der geneigte Leser, die geneigte Leserin mögen sich nicht in Versuchung führen lassen, Roman + Fussnoten separat von den handschriftlichen Anmerkungen zu lesen. Die beiden bedingen sich gegenseitig. Für sich alleine betrachtet, ist der Roman eine Kafka, Bierce und Beckett nachempfundene Parabel über die Sinnlosigkeit des Lebens, die nirgends an die Grossartigkeit und auch sprachliche Gestaltung ihrer Vorbilder heranreicht. Und die Randbemerkungen erzählen ganz einfach eine Liebesgeschichte: Wie der spröde und sich völlig rational gebärdende Mann von der verständnisvollen und Liebe ausströmenden Frau zu einem völlig andern Wesen umgebaut wird – man kennt das aus den verschiedenen Kiosk-Heftchen. Man muss als Leser die vier Stimmen dieses Quodlibets immer zusammenfassen, auch wenn das manchmal anstrengend ist, weil die Autoren des Retardierenden manchmal zu viel tun. Aber nur so kann man dem Buch Interesse abgewinnen.

Das ist nicht höhere Literatur. Das ist eine Parodie auf höhere Literatur und ihre Interpreten. Die manchmal absurden Spekulationen der beiden Studenten darüber, wer denn nun der hochberühmte und dabei völlig unbekannte V. M. Straka gewesen sein könnte, ob es sich dabei vielleicht um ein Autorenkollektiv gehandelt haben könnte, und Das Schiff des Theseus die Geschichte dieses Autorenkollektivs in verschlüsselter Form beschreibt, könnten so durchaus stattfinden. (Bzw. müssen so ähnlich wohl tatsächlich stattgefunden haben, z.B. bei der Suche nach der wahren Identität des B. Traven. Die Geschichte von B. Traven hat übrigens viel mit der des fiktiven V. M. Straka gemeinsam. Ist es ein Zufall, dass B. Travens bekanntester Roman Das Totenschiff heisst, und dass Travens Roman und sein Protagonist viele Gemeinsamkeiten mit V. M. Strakas Schiff des Theseus und seinem Helden haben?) Dass die beiden Studenten bei all ihren merkwürdigen Spekulationen Das Schiff des Theseus nie mit dem antiken philosophischen Paradoxon in Verbindung bringen, erstaunt dann aber schon, wird doch sogar der Gedanke des langsamen, aber systematischen Austauschs der Schiffsplanken ganz offen thematisiert im Roman.

Doug Dorst unterrichtet an einem MFA-Studiengang irgendwo in der texanischen Provinz. Ich weiss nicht, ob die Parodie der höheren Literatur, die Satire auf deren universitäre Rezeption vom Universitätslehrer bewusst so gestaltet wurden. Wenn es keine Parodie ist, keine Satire – dann ist es Kitsch. Wenn es Parodie ist, Satire ist – und ich habe es so gelesen – dann ist es immer noch keine höhere Literatur. Aber immerhin amüsant.

8 Replies to “J. J. Abrams / Doug Dorst: S.”

  1. Lesen will ich das nicht. Wenn schon jemand „sein Gedächtnis verloren hat“… Das dürfte in Thrillern dem schnellen Wahnsinnigwerden in den alten Ritterromanen entsprechen. Mich würde aber interessieren, wie denn die Ernährung der Matrosen mit zugenähtem Mund bewerkstelligt wird. Mittels Nasensonde? Bei kursorischer Durchsicht der Begeisterungsstürme habe ich dazu keinen Hinweis gefunden. Die meisten davon gehen allerdings kaum auf den Inhalt ein, sondern schwärmen fast nur von der originellen Ausstattung. Wobei aber in der deutschen Ausgabe der einigermaßen stilechte 50er-Jahre-Einband nicht zur aktuellen Rechtschreibung auch des Haupttextes passt. Das könnte Nachlässigkeit sein, oder man will die Leser nicht überfordern. Und wichtiger ist ja sowieso das geheimnisvolle Zubehör. „Schnitzeljagd“ war mir schon eingefallen, bevor ich gesehen habe, dass auch Herr Denis Scheck daran gedacht hat – ohne jedoch den Schluss auf retardierte Langzeitpfadfinder als Zielgruppe zu ziehen.
    Übrigens ist dieses berühmte antike Paradoxon ein müßiger Blödsinn. Das war dann durchaus nicht mehr „das Schiff des Theseus“, sondern eine Kopie, von mir aus eine originalgetreue, als solche aber von nicht mehr Authentizität als eine Kopie der Blauen Mauritius in einem Briefmarkenalbum.

    1. Gegessen haben die Matrosen, wenn ich mich recht erinnere, mittels Röhrchen. Die Vernähung des Mundes war offenbar recht grob, so, dass da noch Röhrchen hindurch passten.

      „Schnitzeljagd“ – jein. Nur, wenn man „Schnitzeljagd“ in dem Sinne nimmt, wie es „Myst“ und seine Nachfolger pflegten, also die Computerspiele der 1990er: „[Es] muss der Spieler neue Gegenden erforschen, die Funktionsweise von (oft an Steampunk erinnernde) Maschinen erkennen und so allmählich ein logisches Puzzle zusammensetzen, um an das Ziel des Spiels zu gelangen.“ (Zitat aus Wikipedia – inkl. Kasusfehler)

      1. Danke. Das ist wohl ein gefundenes Fressen für Eingeweihte, die bei solcher Gelegenheit bedeutungsvoll nicken und „Kafka“ raunen. Dessen Hungerkünstler hatte allerdings kein Segelschiff in Betrieb zu halten.

    1. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hast Du Recht. Allerdings ist es dann ein – wenn wir mal den technischen Firlefanz bei Seite lassen – ein sehr schlecht geschriebener Trivialroman, bei dem an allen Ecken und Enden offene Fäden herausbaumeln. So schlecht darf eigentlich jemand, der Creative Writing lehrt, nicht selber schreiben…

      1. Das könnte insoweit kein Problem sein, als die aufwändige Machart das Problem der Nichtauflösung der meisten sekundären Erzählstränge zu übertönen scheint. Literarisch am interessantesten war mit der „Grundtext“, der ja in der vorgeblichen Interpretation der beiden Leser auch nicht im entferntesten ausgeschöpft wird. Seltsamerweise benutzt ja auch der reale Leser all die interpretatorischen Hilfsmittel, die das Buch mitliefert, gar nicht selbst, sondern sie sind nur der Beleg dafür, dass diese Hilfsmittel wirklich existieren. Von daher auch meine Meinung, dass es sich bei dem Buch insgesamt um eine Simulation handelt: »Das ästhetisch aber vielleicht Witzigste an diesem Buch, dessen durchgängigstes Thema die Frage nach der Identität ist, ist, dass es selbst vorgibt etwas zu sein, das es nicht ist. „S.“ tut so, als sei es ein bestimmtes und ganz und gar einmaliges Exemplar eines Buches, zu einem Unikat geworden durch die Dokumentation der gemeinsamen Lektüre zweier Leser und Forscher. Dabei ist es in Wirklichkeit nichts anderes als ein weiteres gut gemachtes und geschickt vermarktetes Massenprodukt des Buchmarktes, gepuscht durch eine wirkungsvolle PR-Kampagne, die einmal mehr ein im Kern triviales Produkt in ein Event verwandelt. Und wir alle feiern mit …«

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