Firmianus Lactantius, bester Leser, dessen Sprache Hieronymus in einzigartiger Weise bewundert, äußert, als er sich eben anschickte, die christliche Religion gegen die Heiden in Schutz zu nehmen, vor allem den Wunsch, daß ihm eine Beredsamkeit verliehen werde, die der des Tullianers nahe komme, wobei er sich, wie ich glaube, dieser Gleichstellung als unwürdig erachtete. (S. 3)
Mit diesem Satz beginnt der erste der beiden in Band 3 der Auswahl aus Erasmus‘ Werken vorgestellten Texte. Dieser Satz ist gewissermassen Programm. Beide Texte sind nämlich ursprünglich Einleitungen zu Erasmus‘ Versuch, dem griechischen Originaltext des Neuen Testaments so nahe zu kommen, wie irgend möglich. Sie beschreiben nicht nur Methode und Ziel des Philologen Erasmus. Sie beschreiben vor allem auch das Ziel des Theologen Erasmus.
Schon kurz nach diesem Satz kommt Erasmus darauf, dass die beste Art, die christliche Religion im Volk zu verankern, es wäre, wenn das Volk den Text in seiner jeweiligen Muttersprache lesen könnte. Viel vom im Volk herrschenden Aberglauben könnte so, denkt sich Erasmus, zurückgebunden werden: eine übermässige Heiligenverehrung ebenso wie der Glaube daran, dass hohe kirchliche Würdenträger Sündenablässe aushändigen könnten, die für den Empfänger quasi einen Freibrief darstellten. (Dieser Wunsch wurde kurze Zeit später von Martin Luther übernommen – sogar aus denselben Motiven. Es ist eine faszinierende Spekulation, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die vor Luthers Auftreten in höchsten Kirchenkreisen ernst genommenen und in der Kirche integrierten ’sanfteren‘, humanistischen Reformationskräfte, die wir heute mit Namen wie Erasmus oder Thomas Morus verbinden, sich hätten durchsetzen können und nicht vom Hitzkopf und Querulanten Luther an die Wand gefahren worden wären. Zumindest den Dreissigjährigen Krieg hätte sich Deutschland erspart. Allerdings kaum den Nationalsozialismus – in Bezug auf ihren Antisemitismus gaben sich Luther und Erasmus nichts ab. Das erstaunt bei Erasmus ein wenig, sieht er doch auf der andern Seite durchaus die Möglichkeit eines Dialogs mit dem Islam.)
Der zweite Text ist im Übrigen aus dem ersten entstanden, indem er eine Erweiterung von dessen Mittelteil darstellt. Erasmus hat über Jahre daran gewerkelt, was man dem Text leider auch ansieht: Der Humanist argumentiert darin oft etwas langfädig und weit ausholend. Seine gegen Missstände in der Kirche gerichtete satirische Ader verleitet ihn des öftern dazu, Argumentationsketten zu Gunsten eines Rundschlags gegen Vertreter der Kirche zu unterbrechen und in diesen Rundschlägen auch mal derart zu übertreiben, dass nicht der Kirchenvertreter, sondern der Autor lächerlich dasteht.
Wozu überhaupt eine Wiederherstellung des griechischen Originals vom Neuen Testament? Erasmus hat festgestellt, dass sich beim Abschreiben der Texte viele Fehler in diese eingeschlichen haben. Jetzt, im Zeitalter des Buchdrucks, kann endlich ein fehlerfreier Text hergestellt und verbreitet werden, der dann eben auch die Grundlage böte zu einer korrekten Übersetzung ins Lateinische und in die verschiedenen Volkssprachen. Denn Erasmus ist der Meinung, dass sich selbst Dogmen der katholischen Kirche auf Fehler von Kopisten und/oder Fehlübersetzungen zurückführen lassen. Diese Fehler sind sowohl in der ehrwürdigen lateinischen Fassung des Neuen Testaments zu finden, die der Kirchenvater Hieronymus angefertigt hat, und die als kanonisch gilt, wie auch in der ebenso ehrwürdigen Übertragung der Thora ins Griechische, der sog. Septuaginta. Erasmus empfiehlt deshalb (vor allem dem jungen bzw. angehenden) Theologen, Hebräisch zu lernen, damit er die Feinheiten erkennen lernt, die gewisse Wörter und Ausdrücke im Original aufweisen, und die bei einer Übersetzung notwendigerweise verschwinden werden. (Im Übrigen kümmert den Erasmus die Septuaginta hier wenig.)
Als Theologe verficht Erasmus eine Position, die wir heute wohl als Pastoraltheologie bezeichnen würden: Die Gemeinde hat für den Pfarrer das zu sein, was die Schäfchen für den Schäfer. Vor allem sind die Gemeindemitglieder nicht Besitz des Pfarrers, sondern wie der Schäfer hat er dem eigentlichen Besitzer (= Gott) Rechenschaft darüber abzulegen, wie er sie auf der Weide gehalten und gefüttert hat. Dafür wendet sich Erasmus gegen die (in Paris z.B. immer noch existierende) spätscholastische Theologen-Ausbildung, die seiner Meinung nach den Schüler nur leeres Wortgeklingel lehrt. Erasmus greift lieber zurück auf die Kirchenväter, und da vor allem auf Augustin. Das bedeutet auch eine Abkehr vom aristotelisch gesinnten Aquinaten, eine Hinwendung zu Platon und dem platonischen Sokrates. Diese seine Theologie wurde zu Erasmus‘ Zeit bereits in Cambridge oder Löwen vertreten. (Nebenbei: Erasmus kannte seinen Thomas von Aquin sehr gut und konnte bei Bedarf als Scholastiker argumentieren wie nur irgendjemand!)
Erkenntnistheoretisch bedeutet das eine Hinwendung zur Akademie (die, soweit sie zu Erasmus‘ Zeit noch existierte, schon lange dem Skeptizismus huldigte, was für einen Philologen, der Originaltexte wieder herzustellen sucht, keine schlechte Position ist). In der Moral des täglichen Lebens allerdings neigte Erasmus offenbar eher zur Stoa.
Manchmal voller satirischer Schärfe, manchmal hochgelehrt: Erasmus beim Versuch, sich den intellektuellen Herausforderungen der Zeit zu stellen, ist lesenswert.