Autobiografie kann man eigentlich nicht nennen, was Samuel Langhorne Clemens in der Zeit vom 1. März 1907 bis zum 26. Dezember 1908 geschrieben bzw. diktiert hat und was wir nun im dritten und letzten Band seiner Geheimen Autobiografie finden. Es sind wenig Erinnerungen dabei; viele Diktate beschäftigen sich mit der Gegenwart, mit Clemens‘ Alltag.
Entsprechend uninteressant ist das Buch auch über weite Strecken. Wer in Clemens‘ Tagebuch-Autobiografie Twains Humor wiederzufinden hofft, wird enttäuscht. Eine Zeitlang lässt sich Clemens des Langen und des Breiten über Politik und Charakter des eben zum Präsidenten gewählten Theodore Roosevelt aus, was die deutschen Herausgeber veranlasst, davon zu sprechen, dass es unwürdige US-Präsidenten nicht erst mit Donald Trump gegeben habe. In der Tat hat man bei der Lektüre von Clemens‘ Rants den Eindruck einen zweiten (oder eben einen ersten!) Trump vor sich zu haben. Doch Clemens hat die Politik, die US-Politik und die Machenschaften um die US-Präsidentschaft, schon immer für ein schmutziges Geschäft gehalten und als solches beschrieben – sofern nicht gerade Leute im Weissen Haus sassen oder sich darum bewarben, die ihm persönlich sympathisch waren, wie Ulysses S. Grant, über dessen korrupte Regierungsmannschaft Clemens nie ein Wort verlor.
Ebenfalls unangenehm berührt heute Clemens‘ Schwärmerei für junge Mädchen zwischen 12 und 16, die er seine Engel nennt. Er macht ihre Bekanntschaft auf Reisen oder in New York. Sie sind ihm Ersatz für die nicht vorhandenen Enkel. (Seine einzige Enkelin sollte erst zur Welt kommen, als er schon tot war.) Dennoch hinterlässt die Art und Weise, wie Clemens darüber schreibt, heute, in einer Zeit, wo man in Bezug auf Pädophilie sehr empfindlich ist, ein unbehagliches Gefühl.
Ich habe gerade von ‚Rants‘ gesprochen, und in der Tat haben wir das vor uns: Meist ungerechte und bösartige Auslassungen eines alten Mannes. Davon auszunehmen sind nur zwei Momente: Ziemlich am Anfang des Buchs erzählt Clemens davon, wie er von der University of Oxford einen Ehrendoktor in Literaturwissenschaft erhielt und der Einladung zur persönlichen Überreichung folgte. Clemens ist äusserst geschmeichelt, hat er doch nicht einmal von der eigenen Literaturwissenschaft eine Ahnung, wie er meint. Er erzählt denn auch im Detail, was er ‚drüben‘ alles mitmachte, wen er traf oder mit wem er ass. (Es sind wirklich ein paar bekannte Namen darunter – J. M. Barrie, Trollope, Kipling, Rider Haggard, Tennyson und George Bernhard Shaw, der ihm offenbar den grössten Eindruck macht, wenn man davon absieht, dass ihn die Redaktion der Satire-Zeitschrift Punch in ihr Büro einlädt.)
Der andere Moment ist bedeutend trauriger. An Weihnachten 1908 beendet Clemens seine Autobiografie, besser gesagt: Er bricht sie ab. An Heiligabend stirbt Jean, seine zweitletzte noch lebende Tochter – wahrscheinlich an Herzversagen während eines epileptischen Anfalls. Damit hat sich für Clemens die Motivation für eine Autobiografie endgültig erledigt. Schon seit längerem behauptet er nämlich, nur noch daran diktiert zu haben, weil er Portionen seiner Autobiografie den Neuausgaben seiner alten Werke hinzufügen wollte. Er beabsichtigte damit, das US-amerikanische Urheberrecht auszutricksen, das das Autoren-Recht auf Tantiemen nach einer gewissen Anzahl von Jahren nach der Erst-Erscheinung erlöschen lässt, indem er sas Werk quasi neu schreibt und deshalb ein neues Urheberrecht daran evoziert. Doch die Zahl der Jahre, die ein Buch geschützt ist, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade erhöht. Und nun lebt nur noch eine Tochter, und die ist glücklich und nicht arm verheiratet. Clemens muss sich um deren finanzielle Situation nach seinem Tod keine Sorge machen. Unabhängig davon sind die Worte, die Clemens praktisch an Jeans Todesbett schreibt, das Berührendste des ganzen Bandes.
Den Nachklapp hingegen, das von Clemens nie zur Autobiografie gerechnete Ashcroft-Lyon-Manuskript, sollte sich sparen, wer seinen Respekt vor und seine Liebe zu Mark Twain behalten will. Ob die darin erhobenen Anschuldigungen gegen zwei seiner Angestellten, seinen Privatsekretär und seine Haushälterin, stimmen, sei dahingestellt. Die Art und Weise, wie Clemens die beiden schlecht macht und schmutzige Wäsche wäscht, erinnert nur zu sehr an die haltlosen Anschuldigungen, die halb demente BewohnerInnen von Altersheimen an ihr Pflegepersonal richten. Es ist übel und erregt Übelkeit.
Fazit: Nachdem mich schon der erste Band nicht befriedigen konnte, der zweite etwas besser war, hat mich Band 3 der Geheimen Autobiografie mehr als nur enttäuscht. Auf den rechthaberischen alten Mann, den wir hier hören, können wir verzichten.