Antonio Vivaldi: La verità in cimento

Von Vivaldi kennt man heute fast nur noch die Violinkonzerte Die vier Jahreszeiten, die er 1725 geschrieben hat. Dass er zu Lebzeiten ein sehr erfolgreicher und sehr produktiver Komponist von Opern war, ist dem breiteren Publikum unbekannt. Von Zeit zu Zeit wird allerdings eine seiner Opern wieder auf einen Spielplan gesetzt. So geschehen in dieser Saison mit La verità in cimento am Zürcher Opernhaus, einer Wiederaufnahme von 2015. La verità in cimento heisst etwa so viel wie „Die Wahrheit auf dem Prüfstand“, und es handelt sich dabei, wenn ich richtig gezählt habe, um Vivaldis 13. Oper. Uraufgeführt wurde sie, wie fast alle Werke des Venezianers Vivaldi, natürlich in Venedig.

Das Libretto von Giovanni Palazzi erzählt die Geschichte des Sultans Mamud, dem gleichzeitig zwei Söhne geboren werden. Allerdings sind es nicht Zwillinge, sondern die Kinder zweier Mütter. Melindo wird ihm von seiner favorisierten Haremsdame Damira geboren, Zelim von der ersten Frau, der Sultana Rustena. Aus Liebe zu Damira vertauscht Mamud die beiden Söhne, so dass Melindo und nicht Zelim als zukünftiger Erbe des Reichs aufwächst. Nur Damira weiss vom Tausch. Als es aber darum geht, dass Melindo die junge und etwas wankelmütige Rosane, die Erbin eines benachbarten Sultanats, heiraten soll, packt den Sultan die Reue, und er will die Vertauschung rückgängig machen. Kann sich die Wahrheit gegen die Lüge durchsetzen? Das nachfolgende Tohuwabohu füllt den Abend, bis dann eine gütliche Lösung dahingehend gefunden wird, dass sich Zelim damit abfindet, zwar das Sultanat zu erhalten, aber nicht Rosane (in die er ebenfalls verliebt ist), während Melindo nur das kleinere Sultanat der Rosane erhält, zusammen mit dieser selber. Das Ganze steckt voller satirischer Spitzen gegen absolutistisches Herrschertum, die sich Komponist und Librettist erlauben konnten, weil sie in einem Staat lebten, der sich offiziell „Republik“ nannte und sie vorsichtshalber die Handlung in ein fiktives und ungenannt bleibendes Sultanat irgendwo im Osten verlegten. Sogar in der Besetzung zeigt sich Vivaldis satirische Ader: Die beiden Söhne sind in etwas ungewöhnlichen Stimmlagen angelegt – Melindo wurde bei der Uraufführung in Venedig von einem Kontra-Alt gesungen, Zelim von einem Sopran (nämlich von einem Kastraten). Wie wenn der Komponist die Unreife der beiden betonen möchte! (Vielleicht war es aber auch nur Kalkül, um das damals schon sensationslüsterne Publikum in die Vorstellung zu locken: Vor allem Kastraten waren Stars, die zu sehen und zu hören man weit reiste.) Das Orchester im Übrigen typisch barock besetzt: Viel Holz (Streichinstrumente und Holzbläser (bis hin zur Blockflöte!)), Cembalo (wegen des Basso continuo), dafür kaum oder gar kein Blech, keine Pauken oder Trommeln. Kompositorisch viele Koloraturarien für alle Stimmlagen. Nur Soli, keine Mehrstimmigkeit.

Die Aufführung des Opernhauses Zürich hat die Besetzung der Stimmen geändert: Die Stelle des Kastraten-Soprans übernahm ein ’normaler‘ weiblicher Sopran (die Frankfurterin Deniz Uzun, die u.a. auch an der Jacobs School of Music der Indiana University studiert hat); der Kontra-Alt wurde besetzt mit einem Kontra-Tenor (diese Stimmlage ist auch als Countertenor bekannt und umfasst in etwa dieselben Töne). Diese Umbesetzung war fast zwingend, gibt es doch kaum Kontra-Alts in der klassischen Musik, während von den Countertenören doch ein paar herumschwirren. Kastraten findet man schon gar nicht mehr. Es haben die Verantwortlichen in Zürich aber auch in das Libretto eingegriffen. Die Handlung wurde mehr oder weniger in die Gegenwart verlegt; aus dem Sultan wurde der Besitzer eines grossen Familien-Konzerns; die Favoritin unter den Haremsdamen wurde zum Dienstmädchen degradiert. Damit nicht genug, änderte man den Schluss rigoros ab. Wo Vivaldi ein Happy Ending vorsah, brachten sich in Zürich in den letzten 10 oder 15 Minuten praktisch alle ausser Zelim um. Dieser, schon vorher ganz in Schwarz wie ein Punk gekleidet und auch so handelnd (ausser es geht um die Liebe zu Rosane), überlebt und zieht einsam und hochmütig seiner Wege. Das Dekor wurde ebenfalls in die Gegenwart verlegt, statt eines Harems sehen wir eine Fabrikanten-Villa: ein ziemlich miefend daherkommendes Esszimmer im Stil der 1950er Jahre, dazu passend der an Boden, Decke und Wänden mit dunklen Holzlamellen verkleidete Korridor, Beleuchtung ebenfalls im Stil der 1950er; das Arbeitszimmer des Fabrikanten dann aber in dunkles Marmor gekleidet, eindeutig in Stilbruch, da moderner wirkend. In der Garage steht ein silberner Porsche.

Die Aufführung rasant, wie es sich fürs Thema gehört. Die Sänger alle ausgezeichnet, und wenn Deniz Uzun zum Schluss am meisten Applaus erhielt, so war das eher die Auszeichnung einer Prima inter pares, wenn auch wohl verdient.

Ein paar Worte noch zum Publikum: Nicht nur das venezianische Publikum des 18. Jahrhunderts ist offenbar auf Sensationen aus. Auch das Zürcher Publikum des 21. Jahrhunderts hat bezeichnenderweise als erstes das erste Solo des Countertenors mit Szenenapplaus bedacht, obwohl vorher schon andere Gelegenheiten bestanden. (Zur Ehrenrettung des Zürcher Publikums muss gesagt werden, dass nachher auch andere Sängerinnen und Sänger mit Szenenapplaus bedacht wurden – völlig zu Recht, wie ich finde.) Und die Sensation eines Autos – und dazu noch eines Porsche! – auf der Bühne (ich vermute, er war echt) war offenbar einem Zuschauer oder einer Zuschauerin wert, gegen die Regeln des Hauses zu verstossen und es mit dem Handy (und Blitz!) zu fotografieren. Er oder sie wird vermutlich zu Hause nicht sehr viel auf der Aufnahme erkennen können… Last but not least jene ältere Dame (und mit „älter“ meine ich: offensichtlich noch ein gutes Stück älter als ich!), die gegen Ende der Pause an der Bar eine zweite Serviette verlangte. In ihre beiden Servietten verpackte sie dann den Rest des Blätterteig-Gebäcks, das sie offenbar nicht fertig zu essen vermochte, und stopfte das Ganze in ihre Handtasche. Den Rest des Abends verfolgte mich dann das Bild, wie es in der Handtasche aussehen wird, wenn sich das Gebäck aus seiner Umhüllung befreit haben sollte.

Draussen dann als Kontrastprogramm laute Rap-Musik. Ich ging still und friedlich nach Hause.


La verità in cimento

Dramma per musica in drei Akten von Antonio Vivaldi (1678-1741), Libretto von Giovanni Palazzi

Musikalische Leitung: Ottavio Dantone
Inszenierung: Jan Philipp Gloger
Bühnenbild: Ben Baur
Kostüme: Karin Jud
Lichtgestaltung: Franck Evin
Dramaturgie: Claus Spahn
Rosane: Anna Devin
Rustena: Liliana Nikiteanu
Melindo: Christophe Dumaux
Damira: Delphine Galou
Zelim: Deniz Uzun
Mamud: Richard Croft
Orchestra La Scintilla

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