Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie.

Verblüfft an diesem Werk hat mich schon der Titel: Philosophisch nicht gänzlich unbedarft war mir nicht ganz klar, was Erdur da unter “französischer Theorie” versteht bzw. zu verstehen vorgibt. Denn die hier versammelten Philosophen, die er auf ihre koloniale Vergangenheit (resp. deren Einfluss auf ihr Werk) zu untersuchen sich vornimmt, haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun: Der Bogen spannt sich von Bourdieu über Foucault, Barthes und Derrida bis zum (ehemaligen?) Maoisten Ranciere. Weshalb man den Autor im Philosophie-Magazin (kein Link, weil hinter der Bezahlschranke) denn auch nach dem Verbindenden einer solchen “französischen Theorie” befragte.

Und Erdurs Affinität zu oben genannten Denkern (die wenigstens teilweise sich dem Poststrukturalismus zuordnen lassen) wurde inhaltlich und stilistisch dieser Philosophie mehr als gerecht: “Ich sehe das verbindende Element nicht so sehr in den Theorien, die inhaltlich tatsächlich sehr unterschiedlich ausfallen, sondern vielmehr in der Art des Denkens. Es ist ein Denkstil, der gegen die Identität und für die Differenz, gegen das Zentrum und für die Peripherie, gegen das Hegemoniale und für die Minorität eintritt.” Ein peripheres Denken, das sich gegen ein Zentrum richtet – oder aber eine völlig beliebige Zusammenstellung von Gegensatzpaaren, die in jeder theologischen Erörterung über die Eigenschaften Gottes ebenfalls Platz finden könnten. Für Klein und gegen Groß, für Dick – gegen Doof, für Entitäten und gegen Quidditäten (um ein wenig im philosophischen Duktus zu bleiben). Selbstredend wird nicht weiter nachgefragt, was der Autor uns da sagen will, denn man könnte ja der Einfalt geziehen werden oder aber gar konstatieren müssen, dass mit derlei Sätzen bloß ein Beitrag zur Klimaerwärmung geleistet wurde.

Erdur liefert acht Kurzbiographien und legt dabei besonderes Augenmerk auf die maghrebinischen Wurzeln der Personen. Die sind mehr oder weniger gut ausgeprägt (um im übrigen eine “französische Theorie” auf ihre kolonialen Wurzeln zurückzuführen sollten all jene, die solche Wurzeln nicht besaßen, nicht gänzlich unerwähnt bleiben; ein Grund mehr, weshalb das Ganze ein seltsames Unternehmen bleibt), liegen in der Herkunft, in Universitätsaufenthalten oder im Militärdienst. Und selbstverständlich hat das Erlebte immer auch einen Einfluss auf das Gedachte und Niedergeschriebene, sodass es als Trivialität erscheint, derartige Zusammenhänge herzustellen. Allerdings muss man dem Autor konzedieren, dass er wenigstens ansatzweise auch kritisch mit seinen Protagonisten umgeht: Foucault und Barthes waren offenkundig mehr an den leicht verfügbaren Strichjungen Nordafrikas interessiert als am kulturell-philosophischen Erbe und dieses als “Exotismus” verbrämtes Verhalten bleibt nicht unerwähnt (wobei: Würde man derlei vornehme Umschreibungen auch für Europäer, die sich in thailändischen Bordells vergnügen, verwenden und nicht vielleicht doch zu einer etwas kräftigeren Ausdrucksweise Zuflucht nehmen?).

Jedenfalls ist der Versuch, diesen so unterschiedlichen Personen bzw. philosophischen Ansätzen eine Art von nordafrikanischer Prägung zu unterlegen, einigermaßen konstruiert und wenig einsichtig. Sehr viel interessanter wäre eine Aufarbeitung des im Buch mehrfach erwähnten “Massakers von Paris” von 1961 gewesen bzw. die Frage, warum die Intellektuellen zu diesem Staatsverbrechen (das gerade für die Linke ein gefundenes Fressen hätte sein müssen) kaum Stellung bezogen und derart zurückhaltend reagierten. Bzw. eine grundsätzliche Analyse, wie es denn die Vertreter dieser “französischen Theorie” mit demokratischen Grundwerten hielten, warum etwa die Linke, insbesondere Foucault von der Machtergreifung eines Ayatollah Khomeini so angetan war (was wohl nicht zufällig an die heutigen “Linken” erinnert, die Putin hofieren) und sich nicht entblödete, von einer auch für Europa wünschenswerten “politischen Spiritualität” zu faseln. Ich habe diese Zeit selbst miterlebt: Keine Ansicht konnte so schwachsinnig sein, so offenkundig demokratiefeindlich und autoritär, dass sie nicht von den zahlreichen Intellektuellen, die unter der westlichen Konsumgesellschaft zu leiden vorgaben, unterstützt worden wäre: Das ging von Pol Pot über Idi Amin, den vielgeliebten Fidel Castro bis Mao Tse Tung, der – was die Anzahl der Toten betrifft – einen Ehrenplatz neben Stalin und Hitler einzunehmen verdient. Was nicht wenige daran hinderte, das “Rote Buch” in der Westentasche mitzuführen (auch Paul Feyerabend hat sich dessen gerühmt) und auf jeden Einwand mit “Kapitalist”, “Imperialist” oder dem Totschlagargument des “falschen (weil bürgerlichen) Bewusstseins” zu reagieren.

Heute bemäntelt man derlei bestenfalls als Jugendsünde, was hingegen schon damals (und bei den meisten betreffenden Philosophen) bis zu ihrem Tod einfach nur ideologische Verblödung und Mangel an folgerichtigem Denken dargestellt hat. So freut sich Ranciere nach wie vor über jedes Mikrophon, in das er seine Leerformeln zu sprechen aufgefordert wird und noch immer wird sein Gewäsch als vermeintlich profundes Nachdenken über politisch-soziologische Probleme angesehen (nach der letzten Wahl in Frankreich ließ er sich etwa wie folgt vernehmen: “Langfristig kann jedoch nur die Schaffung eines autonomen Raums, der frei ist von den Streitereien der – zu Recht oder zu Unrecht – als links bezeichneten Gruppierungen, eine gewisse Hoffnung auf eine andere Zukunft bieten.”) Das ist so gehaltvoll wie eine Bauernregel oder die Spruchweisheit im Weihnachtskalender einer Esoterikervereinigung: Aber allein die Formulierung vom “autonomen Raum” (sollte da nicht auch alsbald das Wort “Diskurs” nebst entsprechendem Epitheton auftauchen?) lässt den vorgeblich hochgeistigen Leser mit der Zunge schnalzen und ungeheuren Tiefsinn vermuten.

Ein – irgendwie amüsantes – letztes Kapitel hat Erdur noch hinzugefügt: Er glaubt seine “französische Theorie” gegen die Anwürfe eines ungerechtfertigten Relativismus verteidigen zu müssen, dagegen, dass diese Theorie einen Baustein für die Fragwürdigkeit des Begriffs Wahrheit darstellt (das führt er so nicht explizit aus, man spürt aber, dass er die poststrukturalistische Beliebigkeit nicht mit Trumpschen Fakenews in Verbindung gesetzt sehen will). Allerdings konnte ich auf diesen 20 Seiten kein einziges Argument ausmachen, dass diesen nicht unbegründeten Vorwurf entkräftet hätte. Ich meine damit wirklich keines, noch nicht mal ein schlechtes. Erdur schwadroniert einzig davon, dass man die Dinge “historisch” sehen müsse (??) und lässt bestenfalls durchklingen, dass die im Buch versammelte Autorenschaft (Barthes, Derrida, Bourdieu, Foucault, Ranciere, Balibar, Cixous und Lyotard) wohl rechtspopulistisches Gedankengut nicht goutiert hätte. Dem würde ich zustimmen (wenngleich man Foucaults Träumen von theokratisch-spiritueller Herrschaft eine solche Nähe zusprechen kann), aber das war auch nie der Vorwurf: Sondern vielmehr, dass dieser ganze poststrukturalistische Galimathias in seiner verschwommenen Terminologie sich wunderbar als Grundlage für “alternative” Wahrheiten eignet. Erdur findet aber nicht nur kein Argument, dass einen solchen Vorwurf entkräften könnte, auch sein Versuch, die Sinnhaftigkeit einer Beschäftigung mit diesen Theorien zu belegen, geht über ein verschwommenes “historisch interessant, verdient eine gründliche Auseinandersetzung” (womit verdienen sie das?) nicht hinaus.

So bleibt einzig Verwunderung zurück, warum ausgerechnet dieses Buch allüberall besprochen wird (selbst in nicht einschlägigen Zeitschriften): Hier hat die Marketingabteilung (von wem auch immer) großartige Arbeit geleistet. Die vorliegende Besprechung soll nun ein Hinweis darauf sein, dass man sich aller PR-Maßnahmen zum Trotz die Lektüre mit Fug und Recht schenken kann.


Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie.

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