Sebastian Domsch: Brooklyn. Ort der Literatur

Fotografie der Brooklyn Bridge (einer riesigen Hängebrücke), die rechts hinter einen typischen New Yorker Haus verschwindet, von dem man zwei Fenster sieht, rotes Mauerwerk und die ebenso tpyische Feuertreppe.- Ausschnitt aus dem Buchcover.

Sebastian Domsch (Jahrgang 1975) ist Professor für Anglophone Literatur und Kultur an der Universität Greifswald – prädestiniert also für ein Buch über Brooklyn als Ort der Literatur. Seine Fachkenntnisse kommen sehr gelegen. Dennoch handelt es sich hier nicht (nur) um ein Buch für Dozierende oder Studierende der Literatur- oder der Kulturwissenschaften. Auch Amateure und Amatricen können es mit Gewinn und Genuss lesen, so viel sei gleich gesagt. Liebhaber und Liebhaberinnen nämlich der Literatur im Allgemeinen, der US-amerikanischen Literatur im Besonderen; Liebhaberinnen und Liebhaber aber auch der Stadt New York im Allgemeinen, von deren Stadtteil Brooklyn im Besonderen.

In vier Kapiteln liefert uns Domsch eine Geschichte des Borough (Stadtbezirks) Brooklyn. Er fängt dabei in prähistorischen Zeiten an, skizziert kurz die ersten Indigenen, folgt dann den Holländern bei der Gründung des ersten Dorfs (Midwout) auf dem Gebiet des heutigen Brooklyn, dann des zweiten (Breukelen). Es folgen die Übergabe an die Briten, die Schlacht von Brooklyn (auch bekannt als Schlacht von Long Island) im Unabhängigkeitskrieg, die haushoch verloren ging und deshalb die Unabhängigkeitsbestrebungen der Siedler beinahe im Keim erstickt hätte. Im 19. Jahrhundert sehen wir, einhergehend mit der Industrialisierung, die Entwicklung Brooklyns zur Pendlervorstadt von Manhattan (eine Nachbarstadt, mit der Brooklyn lange rivalisiert hatte um den Vorrang auf Long Island), schließlich das Verschmelzen der Rivalen in der Stadt New York.

Im 19. Jahrhundert erscheint der erste Dichter in der Geschichte Brooklyns, zugleich einer der ersten Dichter der noch jungen USA und Erneuerer nicht nur der US-amerikanischen Lyrik: Walt Whitman war der erste, der in seinen Gedichten Brooklyns gedachte.

Es folgt Brooklyns Niedergang, als die alten Fähren zwischen New York und diesem Stadtteil durch die berühmte ‚Brooklyn Bridge‘ ersetzt wurden und gleichzeitig die Entwicklung des Individualverkehrs (das Automobil!) dafür sorgte, dass die Mittelklasse sich Häuser und Wohnungen außerhalb New Yorks, im Grünen, suchen konnte. Autobahnen fraßen sich quer durch Brooklyn. Es kamen daher ärmere Schichten nach Brooklyn, vor allem Leute afroamerikanischen Ursprungs – dieser Niedergang wird in diesem Buch hier exemplifiziert an Betty Smiths Ein Baum wächst in Brooklyn. Wobei Domsch diesen angeblichen Niedergang schon im Titel des betreffenden Kapitels als Mythos bezeichnet: Brooklyn als gefährlicher, von schwarzen Gangs beherrschter Stadtteil existierte so nur in der Phantasie (der Weißen). Es lebten immer Menschen aller Hautfarben dort, darunter sogar sehr viele ultraorthodoxe Juden. In einem seiner interessanten Exkurse stellt Domsch die These auf, dass es neben und noch vor den Schwarzen gerade diese Juden waren, die der Neurotiker H. P. Lovecraft als bedrohlich empfand – als so bedrohlich in der Tat, dass seine Horror-Geschichten vor der Erfindung des Cthulhu-Mythus unter anderem in Brooklyn handeln.

Als Vorstufe der heute praktisch abgeschlossenen Gentrifizierung (i.e. der ‚Wieder-Einwanderung‘ zunächst ärmerer, dann immer vermögenderer weißer Schichten, die das Quartier mit seinen „Brownstones“ hip und chic finden) stellt uns Domsch die ersten Literaten-Kolonien vor, allen voran das February House, wo sich Kunstschaffende wie W.H. Auden, Carson McCullers, Benjamin Britten, Paul Bowles und Gypsy Rose Lee zu einer Art Wohngemeinschaft zusammenschlossen – einer Wohngemeinschaft, die auch viele Gäste anzog (Salvador und Gala Dalí, Anaïs Nin, Klaus Mann, Jane Bowles, Richard Wright – um nur einige zu nennen).

Alle diese Stufen, von der Gründung bis zur abgeschlossenen Gentrifizierung, die aus Brooklyn plötzlich wieder ein Pflaster machte fast so teuer wie Manhattan, begleitet Domsch mit Zitaten aus Werken von Schriftsteller:innen, von denen die meisten tatsächlich vor Ort gelebt hatten. In manchen Fällen wird auch eine kurze literaturwissenschaftliche Analyse zu den literarischen Texten eingeschaltet, aber das geschieht völlig unaufdringlich. Auch hütet sich Domsch vor der grassierenden Krankheit der Literaturwissenschaft, jedes Wort symbolisch zu nehmen und in vier oder fünf Assoziations-Stufen den Sinn des Textes völlig zu verwässern. Er bleibt bei einer konstruktiven Textanalyse stehen – und das ist gut so.

Last but not least, weil wir es im Untertitel ja mit Orten zu tun haben: Domsch stellt auch in jedem Kapitel ganz kurz einen oder zwei Orte in Brooklyn vor, die auf irgendeine Weise etwas mit Literatur zu tun haben oder gehabt haben: Da ist Brooklyn Inn, einer der frühen Treffpunkte der lokalen Intelligentsia, heute nicht mehr existent; Brooklyn Bridge, ein technisches Meisterwerk, das viele Schreibende angeregt hat; das Brooklyn Moon Bridge Café, noch ein Treffpunkt, heute ein touristischer Hotspot; Red Hook, eine Zeitlang der verrufenste Teil Brooklyns (s. oben: H. P. Lovecraft); Brooklyn Bookstore Crawl, die Buchhandlung Brooklyns; February House, auch dazu: s. oben; zum Schluss das heute wahrscheinlich bereits nicht mehr existierende Koch Comics Warehouse, ursprünglich tatsächlich das Warenlager eines auf Comics spezialisierten Antiquars, das dieser seinerzeit in Brooklyn einrichtete, weil dort die Mieten billig waren. Mit der Gentrifizierung allerdings kann er sich dieses Lagerhaus heute wohl nicht mehr leisten.

Wir haben hier ein gut geschriebenes, mit vielen literarischen Zitaten durchsetztes Bild des Stadtbezirks Brooklyn. Mit 120 Seiten hat es eine gute Länge und der Inhalt ist wohl komprimiert. Ich empfehle es allen, die sich nicht davon abhalten lassen, dass hier keine eigentliche Trivialliteratur und auch nicht nur Auster oder Foer auftauchen, sondern sogar Namen und Texte komplexerer Autoren wie Withman, Eliot oder DeLillo. Zu guter Letzt sei noch dieses lobend erwähnt: Domsch verzichtet auf jede Form gesuchten Humors in seinem Text. Er verzichtet überhaupt auf jede Anbiederung beim Publikum. Man fühlt sich beim Lesen ernst genommen, und das schätze ich. Sehr.


Sebastian Domsch: Brooklyn. Ort der Literatur. edition text + kritik im Richard Boorbeck Verlag, München, 2024.

Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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