Falls die Damen und Herren der WHO je wieder auf den Gedanken verfallen sollten, eine Pandemie ausrufen zu wollen, würde ich ihnen die vorgängige Lektüre dieses Romans der englischen Romantikerin Mary Shelley von 1826 empfehlen. Denn „Pandemie“, wenn es so etwas gibt, müsste aussehen, wie von Mary Shelley imaginiert. In ihrem Roman The Last Man grassiert eine Pandemie im echten Sinne des Wortes, und Lionel Verney, der Ich-Erzähler, ist genau das: der letzte Mensch – der letzte und einzige Überlebende einer die ganze Welt verwüstenden Pest.
Dabei beginnt alles so harmlos. Die ersten beiden Bücher (von drei) schildern im Grunde genommen nur das relativ komplizierte und dann doch wieder so einfache Beziehungsgeflecht einer Gruppe von adligen (hochadligen!) Engländern gegen Ende des 21. Jahrhunderts. Und, obwohl die Geschichte in eine aus Mary Shelleys Sicht ferne Zukunft gelegt ist, merkt der Leser von dieser Zukunft so gut wie gar nichts. Ähnlich wie in Merciers Das Jahr 2440 sind die Jahrhunderte offenbar vergangen, ohne dass sich eine grossartige technische oder soziale Entwicklung ereignet hätte. Noch immer regiert Grossbritannien das Meer; Luft- oder gar Raumfahrt gibt es keine (ausser, dass der Erzähler einmal, als er es eilig hat, mit dem Ballon vom Süden Englands in dessen Norden reist – Montgolfier ist also rezipiert, sogar Zeppelin vorausgeahnt, allerdings gibt uns die Autorin keinen Hinweis darauf, wie es denn nun der Ballon macht, dass er punktgenau einen Zielort ansteuern kann, auch reist Verney in der frischen Luft); die bevorzugten (weil einzigen) Reisemittel sind Pferd und Pferdekutsche; und noch immer führen Griechen und Türken Krieg am Bosporus. Auch die Medizin ist offenbar noch immer auf dem Stand des 18. Jahrhunderts – andernfalls hätte die Geschichte gar nicht stattfinden können…
Selbst ein König regiert noch in Grossbritannien – jedenfalls zu Beginn des Romans. Allerdings verfügt er, dass nach seinem Tod die Monarchie abgeschafft werde. Dies, weil er realisiert hat, dass er im Grunde genommen nur ein schwaches Menschlein unter Einfluss seiner machthungrigen Gattin war, die ihm u.a. seinen besten Freund entfremdet hat. Der stirbt verarmt in der Provinz und ist – der Vater des Ich-Erzählers und von dessen Schwester. Die beiden wachsen arm und fast wie Wilde in der Provinz auf – Lionel nominell als Schafhirte, de facto eher als Strassenräuber und Wilderer. Erst das Zusammentreffen mit Adrian, dem Earl of Windsor und Sohn des letzten Königs, führt die beiden zurück in den Schoss der Menschheit. Denn Adrian ist der nobelste aller Menschen, Philosoph und Philantrop. Unsere Geschwister werden so wieder in den Alltag des Adels miteinbezogen und lernen dabei auch Lord Raymond kennen und (was Perdita, die Schwester, betrifft) auch lieben. Raymond ist eine innerlich zerrissene Gestalt – zerrissen zwischen Liebe und politischer Ambition, in punkto Liebe aber auch zerrissen zwischen mehreren Frauen. Schliesslich entscheidet er sich doch gegen seine politischen Ambitionen (er wollte die Monarchie restaurieren und in seiner Person – da Adrian sich weigerte – eine neue Dynastie gründen) und für Perdita. Da ihn seine politischen Ambitionen dann doch nicht ganz verlassen, wird er „Lord Protector“, was in Mary Shelleys Fiktion ein offenbar mit praktisch absoluter Gewalt regierender, aber alle sieben Jahre neu zu wählender Königs-Ersatz ist. Im Amt trifft er eine seiner früheren Flammen wieder, eine unterdessen völlig verarmte griechische Adlige. Betrügt er Perdita, unterdessen Mutter seines Kindes, oder nicht? Mary Shelley bleibt vage diesbezüglich. Jedenfalls findet der Hitzkopf schliesslich keinen andern Ausweg aus seiner Situation, als sein Amt zur Verfügung zu stellen und als Führer der griechischen Truppen vor Istanbul zu fungieren. Es gelingt ihm denn auch, die Stadt einzunehmen – nur, dass sich keiner der Griechen traut, die Stadt zu betreten, weil dort unterdessen die Pest wütet. Raymond betritt die Stadt und die Hagia Sophia als einziger – und fällt einer dort gelegten Falle in Form einer Brandbombe zum Opfer.
Den Schluss des zweiten Buchs und das ganze dritte Buch bildet dann die Schilderung, wie die Pest langsam über die ganze Welt schleicht und die Menschheit Stück um Stück dezimiert. Es zeigt sich, dass sowohl die vernünftigen und kühlen Reaktionen eines Adrian hilflos gegen die Pandemie sind, wie der Rückzug in eine fanatische Religion, die ein selbsternannter Prophet propagiert, der einen neuen Gottesstaat in den Ruinen von Paris gründet. Gegen Ende des dritten Buchs haben die paar in England noch Überlebenden beschlossen, unter Adrians Führung in der wärmeren Luft Griechenlands Rettung zu suchen. Doch die Pest dezimiert die paar Tausend ebenfalls, bis bei einem Schiffbruch von den letzten drei Adrian und Clara (Raymonds Tochter) ertrinken und nur noch Lionel übrig bleibt.
Es ist ein wahrhaft nihilistischer Roman, der aufzeigt, dass keine irgendwie geartete Philosophie gegen die Gewalt der Natur aufzukommen vermag. Die Ideale der Romantik, des Humanismus, der Aufklärung – sie alle sind im Grunde genommen nichts wert. Die Französische Revolution brachte so wenig wie die Restauration, die auf Napoleon folgte. Ob die aufgeklärt-humanistische Haltung eines William Godwin oder einer Mary Wollstonecraft, ob das reaktionäre Wesen eines Edmund Burke – nichts erweist sich als adäquat. Nicht die Revolution selber, nicht die Umtriebe jener Gruppe englischer Romantiker, die sich als die „Auserwählten“ sahen, und zu der neben Mary Shelley auch Percy Bysshe und Lord Byron gehörten.
Denn auch das ist The Last Man: Mary Shelleys Klage über den Untergang jener Gruppe von Freunden, die sich 10 Jahre früher am Ufer des Genfer Sees gebildet hatte. The Last Man ist so auch ein Roman à clef, ein Schlüsselroman. Adrian, der Noble und Edle, ist Mary Shelleys Mann, der ja bekanntlich auch ertrunken ist – auch wenn Mary unterschlägt, dass Percy Bisshe sich zum Zeitpunkt seines Todes von Mary emotional und sexuell schon entfernt hatte. Der zwischen politischer Ambition und den Frauen hin- und hergerissene, bald liebens-, bald hassenswerte Raymond ist Lord Byron. Es ist merkwürdig, wie Byron offenbar auch in seinem Freundeskreis alles andere als nur beliebt war – denken wir an seine Darstellung als Vampir in jenem andern Schlüsselroman des Kreises der Erwählten, Polidoris The Vampyre.
Mary Shelley liefert uns eine verstörende Dystopie – kein Wunder hat die zeitgenössische Kritik den Roman ausgebuht. Erst vor rund 50 Jahren wurde er, zuerst in literaturwissenschaftlichen Kreisen, wieder hervorgekramt. Man darf von der Autorin nicht zu viel verlangen; es ist ihre grosse Schwäche, dass ihre Figuren sich immer wieder ausführlich explizieren und rechtfertigen müssen – gegen sich selber wie gegen andere. Auf diese Art füllt Mary Shelley so manche Seite. Auch triefen Lionels Erinnerungen für einen eventuellen, aber unbekannten Leser nur so von Pathos. Dennoch: Wenn dann die Pandemie so richtig Fahrt gewonnen hat, die Sinnlosigkeit einer wie auch immer gearteten menschlichen Reaktion darauf klar wird, kann sich der Leser dem düsteren Sog der Geschichte nicht mehr entziehen.
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