Johann Karl Wezel: Belphegor. Oder: Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne

Outet man sich als Arno-Schmidt-Aficionado, wenn man zugibt, dass man erst durch seinen Funk-Essay von der Existenz dieses Buchs und seines Autors erfahren hat? Wenn dem so ist, bin ich wohl nicht der einzige. Der Klappentext meiner Ausgabe (ein BoD einer sog. Sammlung Hof[f]enberg) meint zu diesem Buch:

Johann Karl Wezels Satire steht in der Tradition von Jonathan Swifts »Gulliver« und Voltaires »Candide«.

Auch Wikipedia nimmt diese These auf. Tatsächlich hat schon Schmidt in seinem Funk-Essay Belphegor oder wie ich euch hasse (Erstausstrahlung im 2. Programm des Hessischen Rundfunks, 1. Juli 1959) drei Bücher verzeichnet , in denen

[…] in jenem Jahrhundert Kants und Lessings, Goethes und Herders dem Pan=Diabolismus gültiger Ausdruck verliehen worden.

Und er meint Gulliver, Candide und Belphegor. Der Pan-Diabolismus, den die drei in ihren Büchern gepredigt haben, besteht gemäss Schmidt darin, dass die Autoren im Gegensatz zu einem Leibniz davon überzeugt waren, dass diese Welt nicht die beste, sondern die schlechteste aller möglichen sei. Was Arno Schmidt über Voltaires Candide sagt:

Ein Spielball von Schiffbrüchen, Erdbeben, Syphilis und anderen Naturschauspielen, von Pfaffen= und Tyrannenwillkür, gefoppt, betrogen, gespießrutet,  ja gehängt – wenn auch <unvollkommen>; sonst wär’s Buch ja zu Ende, landet Candide endlich in einem mitleidig=kleinen Gemüsegärtchen […]

gilt mutatis mutandis tatsächlich auch für Belphegor und seine Freunde. Belphegor, Medardus und Fromal werden tatsächlich auch durch die Welt geschleudert wie die Partikel im CERN. Die drei verkörpern unterschiedliche Charaktere, eine unterschiedliche Art und Weise, mit dem Ungemach ihres Schicksals umzugehen. Belphegor ist der flammende Idealist, der gegen Ungerechtigkeit immer wieder in Rage gerät – und der dann jedesmal überrascht ist, wenn sich alle (sowohl die Partei, der er helfen wollte, wie ihre Gegner) wie ein Mann gegen ihn wenden, und er somit immer das kürzere Ende zieht. Medardus ist der unverwüstliche Optimist, der sich auf die bessere Zukunft freut, mit seinem Weibchen und einem Glas Apfelwein. Nicht umsonst hat er Theologie studiert – sowohl evangelische wie katholische. Fromal schliesslich ist der Opportunist, der immer wieder versucht, mit Lug und Trug – auch auf Kosten seiner Freunde – das Beste für sich heraus zu holen.

Wir sind mit Belphegor viel näher an Candide als an Gulliver. Das Phantastische von Gullivers Reisen, die Zwerge, Riesen und Luftschlösser, die Houyhnhnms und die Yahoos, fehlt bei Wezel komplett. Bei allen Wundern, die Wezel einsetzt (z.B. eine Wasserhose, die mitten in der deutschen Heide unsere Helden erfasst und – schwuppdich! – in die Türkei transportiert), bleibt er doch unter Menschen und verzichtet auf die einkleidenden Allegorien des Theologen Swift. Wezel ist allerdings radikaler noch als Voltaire. Zwar finden sich die drei Freunde zum Schluss des Romans in einer Idylle wieder wie Candide. Aber selbst die hält nicht lange vor, und Belphegor wird vom Enthusiasmus der Aufstandsbewegung in den Kolonien (er befindet sich in Amerika) angesteckt. Sein Schicksal im Befreiungskrieg lässt Wezel offen.

Ähnlich wie bei Nathanael Wests Eine glatte Million haben wir auch hier einen umgekehrten Schelmenroman vor uns, wo der Schelm eben nur der arme Schelm ist, der unter die Räder der Welt gerät. Selbst Fromal, der versucht, das Räderwerk in seinem Sinne zu beeinflussen, endet am selben Ort wie seine beiden Freunde. (Er ist dann allerdings auch der einzige, der sich vom Kriegs-Enthusiasmus der Zeit nicht mehr anstecken lässt und ruhig an seinem Plätzchen bleibt. Medardus ist bereits gestorben.)

Ist Wezel der späten Aufklärung zuzurechnen oder einer Spezialform des Sturm und Drang? Man tut sich schwer bei der Einordnung. Wezel wurde eine Zeitlang von Wieland gefördert; allerdings war es genau der vorliegende Belphegor, der das Verhältnis abkühlte. Zu radikal wohl und auch zu brutal waren für den Weimarer Schöngeist die Schilderungen Wezels. (Wezels Schicksal war es, dass er genau wie sein Belphegor das Maul im rechten Moment nicht halten konnte, auch dann nicht, wenn es zu seinem Vorteil gewesen wäre.) Dass er sich mit Belphegor an Voltaire orientiert, macht ihn zu einem Aufklärer, die radikale Art und Weise dessen, was und wie er beschreibt, zu einem Stürmer und Dränger, der gar aufs Junge Deutschland vorausweist. So fällt er zwischen Stuhl und Bank. Kein Wunder, kennt ihn heute kaum einer – mit Ausnahme Arno Schmidts, der genau diese Stellen zwischen Stuhl und Bank sorgfältig abzugrasen pflegte, immer auf der Suche nach verwertbaren Fundstücken.

Soll oder kann man den 1776 entstandenen Belphegor heute noch lesen? Der Stil ist weit entfernt von der eleganten Prosa seines zeitweiligen Mentors Wieland. Der Inhalt deckt sich dann doch wieder sehr mit dem (ebenfalls eleganteren) Candide. Ich für meinen Teil bedaure meine in die Lektüre investierte Zeit nicht, muss aber im Nachhinein zugeben, dass die Leselücke, die ich gestopft habe, klein war und hätte vernachlässigt werden können.

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