Josephine Tey: Wie ein Hauch im Wind [To Love and Be Wise]

Bild (Aquarell-ähnlich, aber wahrscheinlich Computer-generiert) einer typisch englischen Dorfszene: links ein Stück hohe Mauer, dann sehen wir eine Strasse mit den blauen Schatten zweier Passanten vor der hellgelben Fassade eines georgianischen Geschäftshauses mit Schaufenstern und Storen darüber. Schon ziemlich weit links dann die braune Mauer einer Brücke, die über einen kleinen Fluss führt, den man aer im Ausschnitt nicht sieht. Auf der Brücke geht gerade eine Person in rotem Shirt gegen das Dorf. Vielleicht fährt sie auch mit dem Rad. Ganz rechts hängen noch die Zweige einer Trauerweide oder einer Eibe (das kann man nicht unterscheiden) ins Bild. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Künstlerkolonien scheinen auf Verfasser:innen von Kriminalromanen eine große Anziehungskraft auszuüben, ebenso auf schottische Autor:innen. Auf dem Gebiet des Kriminalromans kommt einem sofort Dorothy L. Sayers in den Sinn, die ihren Peter Wimsey einen Mord in einer Malerkolonie in Schottland trotz Fünf falscher Fährten aufklären ließ. Was die Schott:innen betrifft, hat schon vorher der gebürtige Schotte Stevenson sogar persönliche Erfahrungen gemacht; er verbrachte selber einige Zeit in einer solchen Malerkolonie in Frankreich. Dann ist da John Buchan, Schotte und Verfasser von ‚shockers‘ (wie er sie selber nannte, wir würden heute von ‚Thrillern‘ sprechen), der seinen Helden Richard Hannay die Ermittlungen, die zur Entlarvung eines deutschen Spions führen sollten, in einer Künstlerkolonie im englischen Südwesten starten lassen. Und hier nun, last but not least, Josephine Tey, die bürgerlich Elizabeth Mackintosh hieß und aus Schottland stammte. Das Pseudonym ‚Josephine Tey‘ benutzte sie vor allem für ihre Kriminalromane mit Chief Inspector Grant vom Scotland Yard in der Hauptrolle – aber eigentlich betrachtete sie sich in erster Linie als Dramatikerin. Vielleicht ist das der Grund, warum sie ihre Künstlerkolonie vor allem mit Autor:innen füllte und mit Leuten, die vom Theater kamen. Das ermöglichte ihr, mehr noch als es Sayers, Stevenson oder Buchan möglich war, denen das Milieu letzten Endes fremd blieb, ihre Figuren mit all ihren Macken recht bissig-satirisch zu beschreiben. (Ob sich wohl der eine oder die andere wiedererkannte?)

Daneben vermute ich im Text tatsächlich ein paar stille Verbeugungen vor ihren schottischen Kollegen. Wenn der Schriftsteller und Journalist Walter Whitmore auf den Gedanken kommt, zusammen mit dem gerade erst eingetrudelten Fotografen Leslie Searle ein Buch zu machen über eine Reise auf dem lokalen Flüsschen – zuerst zu Fuß, dann, wenn es die Wassermenge erlauben würde, mit dem Kanu –, wobei die beiden jeweils draußen übernachten wollten, dann ruft das sofort die Kanufahrt in Erinnerung, die Stevenson mit seinem Freund in Frankreich machte und worüber er später dann berichtete (s. Link oben). Und dass ihre Künstlerkolonie in derselben Gegend Englands zu liegen kam wie die Buchans, halte ich auch für keinen Zufall.

Man lasse sich im Übrigen nicht beirren durch das langsame Tempo, das der Roman zu Beginn aufweist. Es verstreichen tatsächlich mehr als 50 von rund 300 Seiten, bis sich etwas Kriminalroman-technisch Relevantes ereignet. In dieser Zeit werden uns alle Figuren der Künstlerkolonie vorgestellt, und Tey ist sich auch nicht zu schade, immer wieder vom Standpunkt einer allwissenden Autorin aus Gedanken und Aussagen ihrer Personen zu kommentieren. Vor allem wenn es um Mrs Garrowby geht, deren Gedankenwelt sich vorwiegend um die baldige, von ihr gewünschte Ehe ihrer Tochter mit Whitmore dreht, erinnert dieses England der ausgehenden 1940er dann immer noch sehr ans England der Regency-Zeit und Josephine Tey in vielem an – Jane Austen, das scheinbar betulich-langsame Erzähltempo inklusive.

Daneben ist Tey durchaus auch ‚fortschrittlicher‘, als man es bei einer britischen Autorin der unmittelbaren Nachkriegszeit vermuten würde. Sie deutet eine homoerotische Liebe an (leider dann allerdings Klischee-behaftet bei einem Tänzer) und auch Transsexualität schwingt in diesem Roman mit. Das ist für einen Roman, der 1950 veröffentlicht wurde, doch recht ungewöhnlich.

Auch die Auflösung des Kriminalfalls ist ungewöhnlich genug – selbst wenn man im Nachhinein feststellen kann, dass der englische Titel einen deutlichen Hinweis gegeben hat: To Love and Be Wise ist nämlich Teil eines berühmten Zitats von Francis Bacon: It is impossible to love and to be wise. („Es ist nicht möglich, zu lieben und klug zu sein“ – meine Übersetzung.) Der deutsche Titel hingegen ist nichtssagend; vielleicht erkannte Manfred Allié, der Übersetzer des Romans, das Zitat nicht.

Zu der Zeit, als ich regelmäßig Kriminalromane zu mir nahm, war Josephine Tey hierzulande noch kein Begriff. Auch in Großbritannien scheint sie mir erst in diesem Jahrtausend so richtig in den Fokus von Verlagen und Publikum geraten zu sein. Ihre Dramen sind heute vergessen, aber sie gilt nun als Grande Dame des Cozy Crime. Ich wage zu bezweifeln, dass ihr das so ganz recht wäre – aber alleine für den vorliegenden Roman hat sie den Titel schon verdient.


Josephine Tey: Wie ein Hauch im Wind. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Zürich: Oktopus-Verlag, 2024. [Bei diesem Verlag handelt es sich um ein Imprint des Kampa-Verlags. Ob die vorliegende Übersetzung identisch ist mit der deutschen Erstausgabe von 1992 im Dumont-Verlag, Köln, geht leider aus dem Impressum meiner Ausgabe nicht hervor.]

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