Arno Geiger: Unter der Drachenwand

Veit Kolbe wird Ende 1943 an der Ostfront verwundet und kehrt in die Heimat zurück. Doch Wien, seine Eltern sind ihm fremd, fast unerträglich, seines Vaters Gerede vom heldenhaften Kampf erscheinen ihm nach all dem Erlebten unzumutbar und er bemüht sich um einen Aufenthalt auf dem Land, bei seinem Onkel in Mondsee (Salzburg). Dort trift er auf ebenfalls durch den Krieg Gestrandete: Eine junge Frau aus Darmstadt mit ihrem Baby, eine Lehrerin mit ihrer dislozierten Wiener Mädchenklasse, den Bruder der Quartierwirtin (den „Brasilianer“), der sich einzig nach Südamerika zurücksehnt, den zivilisierten Wahnsinn Europas zu verlassen wünscht.

Alles ist vom Krieg bestimmt, beeinflusst, durchtränkt; der opportunistische Onkel versieht seinen Dienst als Landgendarm mit dem Ziel, die Zeit irgendwie zu überstehen, die Zimmerwirtin, eine fanatische Nationalsozialistin, quält ihre Gäste mit Schikanen und dümmlichen Reden vom Endsieg, die Mangelwirtschaft der letzten Kriegsjahre ist allüberall spürbar. Ein Mädchen aus der erwähnten Klasse verschwindet, wird erst Monate später skelettiert in der Nähe der Drachenwand gefunden, dort, wo sie sich eigentlich mit ihrem Freund hatte treffen wollen, die Beziehung zwischen den beiden wurde von den Eltern unterbunden. Ob Unfall oder Selbstmord bleibt bis zum Ende ungeklärt, der Freund, dessen Briefe noch lange nach dem Verschwinden des Mädchens eintreffen (und über den Onkel auch von Veit gelesen werden), drückt seine Angst, seine Sorge, seine Verzweiflung in diesen Schriftstücken aus, wie auch andere Briefe – von der Mutter Margots, der jungen Frau, später Geliebten Veits, aus Darmstadt; von einer jüdischen Familie aus Wien, die nach Budapest flüchten müssen, dort getrennt werden (Mutter und Kind werden nach Auschwitz deportiert, der Mann stirbt nach der erneuten Vertreibung in der Zwangsarbeit) immer wieder einen Perspektivenwechsel erzeugen und das gesamte Elend dieser letzten Jahre demonstrieren.

Und über Veit Kolbe schwebt beständig das Damoklesschwert einer erneuten Einberufung, er, der ein erstes Glück im Zusammensein mit Margot gefunden hat. Ende 1944 ist es dann soweit, er muss zurück an die Front, trifft auf den jungen Freund des verschwundenen Mädchens (um ihm die Briefe auszuhändigen) und sieht offenkundig jenen jüdischen Zwangsarbeiter, dessen verzweifelte Briefe man zuvor gelesen hat, kurz vor dessen Tod. Der Weggang aus Mondsee hat aber für Veit auch etwas Erleichterndes: Nachdem der Brasilianer schon zuvor wegen „Führerbeleidigung“ einige Monate im Gefängnis verbringen musste, kommt es erneut zu einer Auseinandersetzung (mit seinem Schwager, einem windigen Nationalsozialisten) und Veit kann die erneute Verhaftung des Mannes nur verhindern, indem er seinen Onkel erschießt. Auch diese Tat – für ihn selbst überraschend – hat ihre Ursache in den Kriegsumständen, in einer Zeit, in der sich moralische Grenzen verschieben, verschwinden.

Was hier möglicherweise verwirrend anmutet, ist wunderbar klar konzipiert, ist ein mehr als gelungenes Bild jener letzten Kriegsjahre aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Margots Mutter erzählt von den Bombenangriffen und der völligen Zerstörung Darmstadts, der Jugendliche von seinen Träumen, von seiner Verliebtheit, aber auch von seiner „Notmatura“ und der anschließenden Verwendung in der Fliegerabwehr, der Jude Oskar Meyer von seiner Verzweiflung darüber, die Zeichen der Zeit zu spät erkannt zu haben und die Schuld an der Vernichtung seiner Familie zu tragen. Es ist eine überaus eingängige Darstellung der diese Katastrophe erlebenden Menschen, der Verquickung von Zeitgeschehen mit den ganz persönlichen Nöten des einzelnen, aber auch der Unbelehrbarkeit des Menschen, seiner politischen Borniertheit. Keine der Figuren wirkt simplifizierend, es sind vielschichtige Charaktere, weder Helden noch personifizierte Verbrecher, sondern überaus feinfühlig gezeichnete Menschen, deren abgrundtiefe Bosheit als auch ihre Mitmenschlichkeit in wunderbar klarer Sprache gezeichnet werden. Ein selten gelungener Einblick in das Denken und Fühlen von Menschen in besonderen, außergewöhnlichen Zeiten. Ein großartiges Buch.


Arno Geiger: Unter der Drachenwand. München: Hanser 2018.

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