Reinhard Horowski: Hölderlin war nicht verrückt

Eigentlich hatte ich den französischen Germanisten Pierre Bertaux schon wieder vergessen. Vor allem dessen zweites Werk zu Hölderlin – das auf Deutsch ganz simpel Friedrich Hölderlin hieß und hierzulande 1978 zum ersten Mal erschienen war – vor allem dieses Werk also hatte seinerzeit doch einiges Rumoren in der germanistischen Landschaft verursacht. Bertaux behauptete doch nichts Geringeres, als dass Hölderlin a) Jakobiner und b) nicht verrückt gewesen sei, sondern seine Umnachtung nur simuliert habe, um einer Verurteilung zu Festungshaft wegen seiner politischen Gesinnung zu entgehen. Daraus folgerte er auch, dass die Gedichte, die Hölderlin nach 1806 geschrieben habe – so weit sie überliefert sind – als Werke eines Gesunden durchaus ernst zu nehmen sind.

Reinhard Horowski tritt nun im vorliegenden schmalen Büchlein (keine 200 Seiten im Taschenbuchformat – das Buch weist allerdings einen festen Pappdeckel auf) die Nachfolge Bertaux’ an. Auch er ist der Meinung, dass Hölderlin ursprünglich ein Befürworter der Französischen Revolution und ihrer Ziele gewesen sei (wenn auch wohl eher Girondist als Jakobiner) und dass er seinen Wahnsinn nur simuliert habe. Hölderlin sei aber zusätzlich auch Befürworter der altwürttembergischen landständischen Verfassung gewesen, die die Landstände vor gar nicht so langer Zeit ihrem Herzog Friedrich II. abgerungen hatten, und die dieser – von Napoléon 1806 zum König von Württemberg befördert – als eine seiner ersten Amtshandlungen wieder abschaffte und mit Napoléons Rückendeckung ein autoritäres Regime durchsetzte. Schon 1805 wurde Hölderlins Freund Sinclair verhaftet und Ermittlungen auch gegen Hölderlin angestrengt.

Horowski ist von Haus aus Mediziner und Pharmakologe. Er geht noch weiter als Bertaux. Er schreibt z.B. auch Hölderlins Mutter ein handfestes Interesse zu, dass Hölderlin unter Verschluss gehalten wurde. Hatte sie ihm doch sein nicht unbeträchtliches väterliches Erbe vorenthalten, um selber dessen Nutznießung zu haben. Ebenso war die pietistisch-frömmlerische Frau entsetzt darüber, dass dieser ihr Sohn nicht nur offenbar ein Heide war, der fremde Götter anbetete, sondern auch einer, der sich den von ihr geplanten (man ist versucht zu sagen: dynastischen) Heiraten widersetzte, ja gar ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau anfing. (Und Horowski, ohne allerdings Beweise dafür zu liefern, ist sicher, dass die Beziehung – wie die Franzosen sagen würden – konsumiert wurde, Susette Gontard und er also Sex hatten.)

Vieles an Hölderlins Verhalten erklärt Horowski als Resultat einer heftigen Depression, die Hölderlin nach dem Tod der Geliebten Susette packte – ein Gemisch von Trauer und Schuldgefühlen, hatte er doch in seinem Briefroman Hyperion die nach Susettes Vorbild gestaltete Diotima (gegen den Willen ihres Vorbildes dazu noch!) umkommen lassen. Die an Hölderlin beobachtete Glossolalie (das Stammeln sinnloser Silben) führt Horowski ganz einfach darauf zurück, dass Hölderlin oft und gerne aus altgriechischen Texten (natürlich: auswendig!) zitierte, was seine Zuhörer nicht verstanden. Seine nächtlichen Gänge im Garten des Tischlers Zimmer wiederum sei auf seine Herzkrankheit zurückzuführen gewesen, die ihm nachts beim Liegen Atemprobleme verursachte, Atemprobleme, die ein Auf- und Ab-Gehen an der frischen Luft wieder beseitigte. Nächte, in denen er kaum geschlafen hatte, führten wiederum zu Tagen, an denen er apathisch herumsaß.

Und wenn man den Texten von Hölderlins Gedichten und Übersetzungen an Hand merkwürdiger Satzstellungen festmachen wollte, dass hier der Dichter seine Macht über die Sprache verliere, was also ein Krankheitssymptom wäre, so hält Horowski (selber aus Tübingen stammend) dagegen, dass Hölderlin hier ganz einfach der Syntax seines schwäbischen Dialekts gefolgt sei.

Last but not least Horowskis Hauptthese: Hölderlin sei durch seinen Arzt (nicht mit bösem Willen, sondern aus der damaligen Unkenntnis von Nebenwirkungen) langsam vergiftet worden. Die Mischung aus Kanthariden, einem Aufputschmittel, das die Magenschleimhäute zersetzte, und Kalomel (Quecksilber(I)-chlorid) als Beruhigungsmittel, hatte einigen Einfluss auf den physischen und psychischen Zustand des Turmzimmer-Insassen. Vor allem letzteres wird wegen seiner Giftigkeit heute nicht mehr medizinisch eingesetzt.

Horowski mag seinen Hölderlin ganz eindeutig. Und er mag die Leute, die Hölderlin für verrückt (d.h. meist schizophren) erklären, ganz eindeutig nicht. Schon gleich zu Beginn seines Textes rechnet er mit den Psychiatern ab, die bei Hölderlin postum im 20. Jahrhundert eine Schizophrenie diagnostizierten. (Die meisten davon – und darunter einige der damals bekanntesten! – waren tatsächlich sehr unrühmlich in die nationalsozialistischen „Rassenhygiene“-Programme involviert gewesen. Was sie nicht daran hinderte, nach dem Zweiten Weltkrieg weiter als Professoren und Diagnostiker Karriere zu machen und Hölderlin weiter zum Schizophrenen zu erklären.)

Was nehmen wir aus diesem Buch? Wer nicht Mediziner ist, kein Psychiater oder Pharmakologe, wird den fachlichen Richtigstellungen Horowskis kaum folgen können, bzw. deren Korrektheit beurteilen. Ob Horowski und Bertaux Recht haben, oder die große Masse der Medizinhistoriker, kann ein Laie nicht nachvollziehen. Anders als Horowski bin ich allerdings auch der Meinung, dass das heute, im 21. Jahrhundert, keine Rolle mehr spielt. Aus dem Turm helfen können wir Hölderlin ja nicht mehr. Und das Bild vom Genie, das mit Wahnsinn geschlagen wurde, hat sich auch unabhängig von Hölderlin v.a. durch die Werke von E. T. A. Hoffmann durchgesetzt. (Horowski übrigens lässt kein gutes Haar am jungen Dichter Wilhelm Waiblinger, der als einer der ersten über ‘Hölderlin im Turm’ berichtet hat – aus reiner Gier, einen Bestseller zu schreiben, wie ihm Horowski unterstellt, und der genau dieses Bild von Hölderlin kolportiert hat. Auch die andern Dichter der schwäbischen Schule, Schwab und Uhland, hatten kein Verständnis für die dichterischen Qualitäten ihres Landsmannes, sondern nur dazu beigetragen, dass viele Gedichte aus der Turm-Zeit heute verschollen sind. Ganz schlimm in dieser Beziehung war wohl Mörike.) Schizophrenie oder nicht: Die Gedichte, die Hölderlin im Turm geschrieben hat, gelten heute eben so viel, wie die früheren Gedichte. Und ja: Dass es praktisch unmöglich ist, rückwirkend und nur auf Grund von Berichten aus der damaligen Zeit (die dazu noch oft von Laien stammen, von Leuten, die mit ihren Berichten meist noch eigene Ziele verfolgen, die in ihre Sicht bzw. Schilderung der Krankheit einflossen) – dass es also unmöglich ist, nur auf Grund solcher Berichte, ohne den ‘Patienten’ vor sich zu haben, psychiatrische oder überhaupt medizinische Urteile zu fällen, ist eigentlich ein Allgemeinplatz. Ein Allgemeinplatz ist etwas, das jeder weiß. Außer einem Psychiater oder Psychologen.

Dennoch kann ich das Büchlein in seiner Art durchaus empfehlen. Horowski schreibt witzig und leicht verständlich (wo er nicht gerade medizinische Fragen erörtert – und selbst da hat der Laie das Gefühl, ihm folgen zu können). Er lockert seinen Text mit verschiedenen Exkursionen auf, vor allem mit einigen zum Wesen der Schwaben und des Schwäbischen. Vieles von dem, was er über den schwäbischen Dialekt sagt, gilt fürs Alemannische im Allgemeinen: Abgesehen von Varianten im Vokabular, sind Aussprache, Syntax und Morphologie meines eigenen Dialekts nicht so verschieden von dem Hölderlins. Was wohl meinen Spass bei der Lektüre erhöht hat, wie ich zugebe. Aber gerade das Lockere des Textes wird dazu führen, dass die ‘zünftige’ Germanistik und Medizingeschichte das Büchlein ignorieren wird.


Reinhard Horowski: Hölderlin war nicht verrückt. Eine Streitschrift. Tübingen: Klöpfer & Meyer, 2017

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