Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker

Richard von Schirach (Sinologe) ist der jüngste Sohn von Baldur von Schirach, dem Reichsjugendführer, der in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Seine Beziehung zu ihm beschreibt er in “Der Schatten meines Vaters” (ich habe das Buch (noch) nicht gelesen), das von der Kritik mit viel Lob bedacht wurde. Im vorliegenden Buch schildert er die Internierung der zehn prominentesten Kernphysiker des Dritten Reiches nach Ende des Zweiten Weltkriegs im englischen Farm Hall, wobei er die 1993 veröffentlichten Abhörprotokolle seinen Ausführungen zugrunde legt.

Immer wieder tauchen – zum Teil hanebüchene – Spekulationen darüber auf, wie weit die Entwicklung einer deutschen Atombombe schon fortgeschritten gewesen wäre, zumeist verbunden mit ebenso abstrusen Verschwörungstheorien. Die Realität ist zumeist weit weniger romantisch und abenteuerlich (allerdings auch nicht so unschuldig oder gar “widerständig”, wie so mancher Physiker nach dem Krieg behauptete). Von Schirach zeichnet die Bemühungen der deutschen Physiker nach, die Kernkraft zu nutzen – und das keineswegs nur zur reinen Energiegewinnung (wie etwa von Weizsäcker lange erklärt hatte, erst sehr viel später – der Autor zitiert den 80jährigen Weizsäcker – war dieser bereit zuzugeben, dass eine militärische Nutzung angestrebt und erwünscht war, auch von seiten der Physiker). Glücklicherweise hatte Nazi-Deutschland sehr viele überaus fähige Wissenschaftler wegen ihrer jüdischen Abstammung vertrieben, während die verbliebenen aus verschiedensten Gründen in ihrem Bestreben wenig erfolgreich waren: So fehlte es an einer übergeordneten Organisation, an Leuten, die mit experimenteller Atomphysik vertraut waren (Heisenberg als führender Kopf der Gruppe war ein Theoretiker par excellence, aufgrund seiner wenig durchdachten Entscheidungen wurde die Forschung weit zurückgeworfen), aber auch an Rohstoffen und der entsprechenden Infrastruktur, die im Laufe des Krieges unter den Angriffen der Alliierten schwer gelitten hatte.

Trotzdem glaubte sich die Gruppe noch bei ihrer Gefangennahme als einzige dazu in der Lage, die atomaren Kräfte nutzbar zu machen. Umso größer war die Überraschung, das Entsetzen (das sich weniger auf die humanitären Auswirkungen bezog), als sie Anfang August in ihrer Abgeschiedenheit über die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki informiert wurden. Heisenberg (der – nicht als einziger – dieses Ereignis als eine persönliche Niederlage ansah) weigerte sich noch länger zu glauben, dass es sich hier tatsächlich um eine Atombombe gehandelt habe (vor allem die Verwenung von Uran 235 schien ihm aufgrund seiner Erfahrung mit dem Isotop eine Unmöglichkeit). Und nur langsam brach sich die Erkenntnis Bahn, dass dieses Ereignis eine gänzliche Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach sich ziehen würde. (Einzig Otto Hahn, dem während dieser Internierung der Nobelpreis verliehen wurde, schien von dem unermesslichen Leid, dass die Zivilbevölkerung in Japan betroffen hatte, tief berührt, so sehr, dass sich seine Kollegen in der ersten Nacht sogar um sein Leben fürchteten.) Vielmehr aber war es das Gefühl des Versagens, das die Deutschen befiel, die abgrundtiefe Enttäuschung, dass den verachteten Amerikanern etwas gelungen ist, woran sie kläglich gescheitert waren. Und sie waren um ihre ganz persönliche Zukunft besorgt, man würde ihre Fähigkeiten nun nicht mehr brauchen, weshalb etwa Heisenberg überlegte, sich der Sowjetunion anzudienen.

Neben der gelungenen Darstellung dieser halbjährigen Internierung prominenter Physiker mit all ihren sozialen Implikationen, den internen Streitigkeiten als auch der intellektuellen Selbstgefälligkeit (die durch die Erkenntnis, dass die Amerikaner ihnen zuvor gekommen waren, einen Dämpfer erhielt), beschreibt von Schirach auch die enormen Bemühungen der Amerikaner, diesen Wettlauf um jeden Preis zu gewinnen. Es werden ungeheure Fabriksanlagen aus dem Boden gestampft, exorbitante Geldsummen für Forschung und Produktion ausgegeben, um schließlich, obwohl der eigentliche Feind längst besiegt war, das Resultat dieser Bemühungen in der Realität zu erleben: Wobei der Erfolg im Mittelpunkt stand und die Konsequenzen für die Opfer weitgehend verdrängt wurden. Man feierte am Abend nach Hiroshima – und man “testete” einige Tage später die Wirkung der Plutonium-Bombe, wobei später an der Mär gestrickt wurde, dass damit der Krieg in Asien entscheidend abgekürzt worden sei. Mittlerweile weiß man, dass das Nonsens ist: Erst Stalins Angriff mit 1,4 Millionen Soldaten und die Angst vor einer sowjetischen Invasion hat Japan zum Einlenken gebracht, die Atombomen haben dazu nicht maßgeblich beigetragen. – Ein gut geschriebenes, hervorragend recherchiertes Buch, das Einblick in eine für das Fortbestehen der Menschheit entscheidende Epoche wissenschaftlichen Forschens gibt: Undenkbar, wenn tatsächlich Hitler in den Besitz der Bombe gelangt wäre (auch wenn ich nicht glaube, dass diese am Untergang der Nationalsozialisten etwas geändert hätte).


Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe. Berlin: Berenberg 2013.

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