Richard Wrangham: Die Zähmung des Menschen. Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat.

Was ist der Mensch, ein edler Rousseauscher Wilder, den erst die Zivilisation verdorben hat oder ein Hobbescher Wolf, der den anderen nach Möglichkeit übervorteilen, besiegen will und der erst durch eine Reihe von Regeln und Konventionen gezwungen werden kann, sich einigermaßen friedlich zu verhalten? Oder nichts von beiden?

Dieser Frage geht im vorliegenden Buch Richard Wrangham nach – und das Buch zeigt Ansätze, die es zu einem Klassiker der Anthropologie machen könnten. Wranghams Antwort auf die gestellten Fragen unterstützt keine der beiden Varianten, sie ist subtiler und klingt paradox: Es ist die Gewalt, die den Menschen zivilisierter gemacht hat. Er unterscheidet zwei Arten von Gewalt, eine reaktive, die sich im Kampf zwischen zwei (zumeist männlichen) Individuen zeigt und eine aktive, planende Gewalt: Dazu gehören Kriege bzw. alle Polizeigewalt im weitestens Sinne. Die reaktive Gewalt ist bei uns Menschen (außer bei männlichen Jugendlichen) stark zurückgegangen, trotz des engen Zusammenlebens, der ständigen Konfrontation mit dem anderen verläuft auch das Leben selbst in Ballungsräumen weitgehend gewaltfrei. Dies ist ein Phänomen, das bei allen domestizierten Tieren zu beobachten ist: Neben anderen Eigenschaften (Schlappohren, geflecktes Fell, Zutraulichkeit) ist es die verminderte Aggressionsbereitschaft, auf das hin (bewusst, vielleicht auch unbewusst) unsere Haustiere selektiert wurden. Wrangham hält dabei die zuvor genannten Eigenschaften für ein Epiphänomen, entscheidend sei die Auswahl hin zu einem geringeren Hang zu Gewalt. (Auf genetischer Ebene führt Wrangham für diese Entwicklung die Neuralleistenzellen an, die ihren Ursprung am Rücken des Embryos haben und sich dann in Gruppen über den gesamten Embryo verteilen. Diese Neuralleistenzellen haben u. a. einen Einfluss auf die Pigmentierung (die erwähnten Flecken bei Haustieren an Extremitäten, an der Stirn oder am Schweif), aber auch – und das ist der entscheidende Punkt – auf die Entstehung und Funktion der Nebennieren, deren verringerte Größe bzw. Produktionskapazität für die schwächere emotionale Reaktivität der Haustiere verantwortlich zeichnen. Also liegt der eigentliche Grund für die Domestikationseigenschaften in dieser verzögerten Entwicklung der Neuralleistenzellen.)

Beim Menschen wurde nun eine Entwicklung zur Selbstdomestikation angestoßen (da die Idee aus dem 18. Jahrhundert, dass uns überlegene Wesen in grauer Vorzeit zu folgsamen Haustieren erzogen hätten, nicht ganz zu Unrecht verworfen wurde): Zum einen verlangte die Notwendigkeit zur Kooperation einen Menschen, der sich mit seinem Gegenüber einigermaßen vertrug, zum anderen – und das ist der entscheidende Punkt für den Autor – wurden sehr aggressive und dominante Alphamännchen aus dem Genpool durch die erwähnte aktive Gewalt eliminiert. Nur der Mensch (in sehr bescheidenem Maß auch höhere Primaten) sei zu dieser Gewalt fähig, da man sich für die Zusammenarbeit sprachlich abstimmen musste: Dadurch seien geplante Tötungen möglich geworden, konnte man sich zu Bündnissen zusammenschließen, die ohne allzu große Gefahr für das eigene Leben sich jener entledigen konnte, die da die Herrschaft für sich beanspruchten. Die weitgehend egalitären Wildbeutergemeinschaften seien das Ergebnis einer 80 000 oder gar 300 000 Jahre dauernden Selektion allzu aggressiver und machtbesessener Individuen, wobei Wrangham betont, dass es sich um eine eingeschränkte Gleichheit handelt(e): Sie betraf (betrifft) vor allem erwachsene, verheiratete Männer, die die Macht unter sich aufteilten, Frauen haben in diesen Gesellschaften zumeist eine untergeordnete Rolle. Neben dieser permanenten Eliminierung von Alphamännchen setzte die Selektion in Richtung verminderter, reaktiver Gewalt ein (diese Selbstdomestikation hat u. a. eine Annäherung der unterschiedlichen Größen der Geschlechter zur Folge bzw. Formen der Neotenie; ob neotenische Merkmale generell ein Zeichen der Domestikation sind, wird kontrovers diskutiert).

So wurde nach Wrangham der zivilisierte Mensch durch seine Fähigkeit zur aktiven Gewalt (der bedachten und überlegten Tötung von für die Gemeinschaft schädlichen Individuen) und die Verringerung seines reaktiven Aggressionsverhaltens geboren. Eine solche These provoziert philosophische, politische Vereinnahmungen (die in der Anthropologie stets eine große Rolle gespielt haben): Der Philosoph erkennt allerdings sofort den viel und zu Recht gescholtenen naturalistischen Fehlschluss. Völlig unabhängig davon, was wann und wie in der Natur geschieht – es kann daraus niemals ein Sollen abgeleitet werden, weshalb Wrangham in einem eigenen Schlusskapitel mit Nachdruck darauf hinweist, dass aus seiner Hypothese keinesfalls auf die biologisch-evolutionäre Berechtigung der Todesstrafe geschlossen werden kann (Wrangham outet sich als ein vehementer Gegner der Todesstrafe und versteht diese seine Haltung schlüssig zu belegen). Und er macht auch noch einen Ausflug in Richtung Moralphilosophie: Das Überwachen von Richtig und Falsch im Verhalten von Gruppenmitgliedern im Verein mit der Fähigkeit, sich darüber sprachlich auszutauschen, führte zu ungeschriebenen Moralkodizes, die zunehmend als verbindlich für die Gruppe betrachtet wurden. Antisoziales Verhalten wurde bestraft (im schlimmsten Fall mit dem Tod), prosoziales Verhalten mit entsprechendem Statusgewinn belohnt.

Wrangham führt für seine Thesen zahlreiche Beispiele aus der Primatologie (er hat als Student bereits mit Jane Goodall zusammengearbeitet) und der Ethnologie an, seine Argumentation ist sehr durchdacht und schlüssig vorgetragen, wiewohl einige seiner Thesen weiterhin umstritten bleiben werden und eine (von ihm selbst betonte) weitere Forschung notwendig machen. Unabhängig davon, wie diese Kontroversen in Zukunft entschieden werden (und ob es in solchen Dingen definitive Entscheidungen gibt sei dahingestellt), ist dieses Buch ein großartiger und kreativer Beitrag zur Erforschung dessen, was man vor 250 Jahren unter dem Begriff philosophische Anthropologie verstanden hat. Geistreich, mit profundem Fachwissen trägt der Autor seine Ansichten vor, eine Lesegenuss durch und durch. (Eine prinzipielle Bemerkung zu Fachbüchern neuerer Provenienz: Es scheint offenbar keine Lektoren, kein Korrekturlesen mehr zu geben. Die Zahl der Fehler ist auch in diesem Buch Legion, vergleiche ich es etwa mit Webers 1985 erstmals erschienen Buch über Perikles (bei dem ich über keinen einzigen Fehler gestolpert bin), so grenzt das fast schon an Frechheit. Offenkundig ist, dass nur noch Computerprogramme mit dem Korrekturlesen betraut werden: Weshalb „sich“ und „sie“ verwechselt, falsche Artikel en masse verwendet werden – sie finden sich ja im Wörterbuch der Software. Für derart große Verlage ein Armutszeichen.)


Richard Wrangham: Die Zähmung des Menschen. Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat. Eine neue Geschichte der Menschwerdung. München: DVA 2019.

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