Olga Tokarczuk: Taghaus Nachthaus

Die Autorin war mir vor der Verleihung des Nobelpreises gänzlich unbekannt (aber das will nichts besagen). Und eigentlich wollte ich – wie Sandhofer – mit den Jakobsbüchern beginnen, habe aber dann aufgrund der Umfänglichkeit derselben davon abgesehen. So also “Taghaus Nachthaus”, ein Titel, der mir bis zum Schluss einigermaßen rätselhaft blieb, der vielleicht eine Anspielung sein soll auf unklare Verhältnisse in der Dämmerung, da sich Wirklichkeit und Traumwelt seltsam vermischen.

Es gibt eine Ich-Erzählerin, die in kurzen Episoden vom eigenen und dem Leben ihrer – oft skurrilen – Nachbarn berichtet, das Ganze versetzt mit Heiligenlegenden, mit Legenden von jenen, die die Legenden schrieben und mit anderen Geschichten, die der Erzählerin – vermutlich – von ihren Nachbarn mitgeteilt wurden. Kein Roman im eigentlich Sinn, keine Geschichte, in der sich Charaktere entfalten, mehr-weniger Außergewöhnliches erleben und einem Schicksal entgegensehen, sondern Beobachtungen, Anekdoten, Beschreibungen und – Träume.

Und geträumt wird in diesem Buch viel, zu viel für meinen Geschmack. Träume sind die Götterspeise allegorisierender, moralisierender Schriftsteller, sie füllen jene Leerstellen aus, die man ansonsten mit Handlung hätte füllen müssen, aber sich dem ganzen Verlauf nicht wirklich haben fügen wollen. So ein Traum ist unverfänglich, der Bezug zur Realität ist sistiert, er bietet unendliche Freiheiten und kann mit Sinnigem bestückt werden, ohne dass man dies einer der Romanfiguren oder einem auktorialen Erzähler hätte in den Mund legen müssen. Träume sind das Schweizer Taschenmesser des Schreiberlings und deshalb oft nichts anderes als ein billiger Kunstgriff. Wie auch immer – in diesem Buch wird ständig geträumt und, wie es sich für einen literarischen Traum gehört, auf eine über diesen Traum hinausreichende Weise, sinnhaft, auf verborgene Tiefen verweisend.

Mir geht derlei – man wird es schon gemerkt haben – zumeist auf die Nerven und hat mich häufig veranlasst, das Lesen stante pede einzustellen. Aber Tokarczuk ist ein schwieriger Fall: Denn ihre Begabung ist ganz unverkennbar, immer wieder gelingen ihr wunderbar eingängige Beschreibungen, vermag sie feinste Nuancen herauszustreichen, zu betonen, versteht es, Gefühle, Bilder zu evozieren. Über all dem aber bleibt immer spürbar, dass es sich hier um hohe Literatur handelt, um tiefsinnige Literatur, um Literatur für den Literaturkritiker. Und das passiert nicht einfach so, das ist offenkundig gewollt, da wird Sinn verliehen um fast jeden Preis, vor allem Tief-Sinn. Ein Beispiel von vielen möglichen, der Teil eines Abschnittes der mit “Worte” übertitelt ist: “Dabei schaffen Worte und Dinge doch einen symbiotischen Raum wie Birken und Pilze. Die Worte wachsen aus den Dingen und sind erst dann in ihrem Sinn gereift und bereit, ausgesprochen zu werden, wenn sie in einer Landschaft wachsen. Erst dann kann man damit spielen wie mit einem reifen Apfel, daran riechen, mit der Zunge über die Schale fahren und ihn mit einem lauten Knacken entzweibrechen und das schamhafte saftige Innere untersuchen. Solche Worte sterben nie, denn sie können andere Bedeutungen hervorbringen, der Welt entgegenwachsen, es sei denn, die ganze Sprache stirbt. Mit Menschen ist es wohl ähnlich, denn sie können nicht losgelöst von einem Ort leben. Menschen sind Worte. Erst dann werden sie real. Vielleicht war es das, was Marta meinte, als sie sagte: ‘Wenn du deinen Ort gefunden hast, bist du unsterblich’.”

Große Literatur oder Platitüden für den schöngeistigen Literaturkonsumenten? Quält man zur Matura noch immer die Schüler mit Auslegungen (ich weiß es nicht), so wäre dieser Abschnitt problemlos geeignet für einen vielseitigen Interpretationserguss. Sind Menschen Worte – und warum verleihen diese ihnen erst Realität und was hat es mit dem Ort auf sich, in dem sie leben, die Worte, die Menschen? Und wenn ich dann mein “Wort” gefunden habe, eignet mir Unsterblichkeit, weil es meines ist, mir zugehörig usf. – Wenn ich mich über derlei ergehen musste – in der Schule, an der Universität, waren die darüber Urteilenden zumeist voll des Lobes über den Scharf- und Tiefsinn, den ich einem Passus, einem Buch zu verleihen verstand. Ich hatte aber dabei immer das Gefühl, meine eigenen Zauberkunststückchen zu betrachten und so tun zu müssen, als ob ich selbst den Trick nicht durchschauen würde. – Mir jedenfalls ist das zuviel an Bedeutung, ich mag nicht Satz für Satz einem Gehalt nachspüren, dessen Haupteigenschaft es ist, ätherisch, ungreifbar zu sein. Warum hat es mich so gar nicht verwundert, dass Tokarczuk von Beruf Psychotherapeutin ist.


Olga Tokarczuk: Taghaus Nachthaus. Stuttgart, München: DVA 2001.

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