Historia von D. Johann Fausten

Auch bekannt als das Volksbuch vom Doktor Faust. Vor allem im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde dieser Text Volksbuch genannt. Dahinter stecken Missverständnisse und problematische Annahmen (weshalb der Begriff heute nicht mehr verwendet wird); aber das Wort Volksbuch weist doch auf ein tatsächlich existierendes Problem der Historia hin – nämlich sein ursprüngliches Zielpublikum, das man damals dadurch bezeichnen wollte. Heute sind wir überzeugt, dass man damals falsch geraten hatte.

Der Reihe nach: Das Buch ist zum ersten Mal anonym im Jahr 1587 erschienen. Sein Inhalt (ich komme auf ihn zurück) ist von einer Art, bei der sich die romantisch-aufklärerisch geblendeten Literaturwissenschaftler der oben genannten Epoche nichts anderes vorstellen konnten, als dass der Text fürs „Volk“ geschrieben sei. Sprich: für eine literarisch wenig gebildete und nicht anspruchsvolle „Unterschicht“. Dahinter steckt primär natürlich der Standesdünkel der Herren Literaturwissenschaftler (es waren ja praktisch nur Männer in jener Zeit) – der Snobismus des Gelehrten. Dieser verführte sie zu einem rezeptionsgeschichtlichen Kapitalfehler, indem sie Verhältnisse des 19. und 20. Jahrhunderts aufs endende 16. Jahrhundert zurück projizierten. Doch dieses lesende „Volk“ mit seinen anders gestrickten, häufig dem Ausbruch aus einer wenig erbaulichen Realität dienenden Texten, existierte damals noch nicht in der Art, wie man es aus dem 19. Jahrhundert kannte. Genauer gesagt: Das „Volk“ existierte schon – aber lesen konnte es nicht bzw. kaum. Es hatte keine Zeit zum Lesen – und das Geld für schöne Bücher fehlte sowieso. Die Schicht der Lesenden war in der ausgehenden Renaissance noch recht klein: Die meisten davon waren Theologen; es gab Juristen; und größere Städte und Länder (ebenso größere Handelshäuser) benötigten zur Abwicklung und Fixierung ihrer Geschäfte Schreiber. Bauern und Handwerker besaßen allenfalls Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben – weil diese Fähigkeiten aber im Alltag für sie irrelevant waren, ging das wenige Gelernte rasch vergessen; sie waren praktisch Analphabeten. Auf der anderen Seite der sozialen Leiter galt das auch für den Adel – er hatte ja seine Schreiber; selber zu lesen oder gar zu schreiben galt als eine dem Adligen unziemliche Tätigkeit. Die Frauen aller Schichten – sofern sie nicht im Kloster erzogen wurden und lebten – waren von literarischer Bildung sowieso ausgeschlossen. Rezeptionsgeschichtlich gesehen, herrschten also noch mehr oder weniger dieselben Verhältnisse wie im Mittelalter. Erst langsam begann das Bürgertum das Medium ‚Buch‘ zu seiner Belehrung und Unterhaltung zu entdecken. Das Bürgertum – nicht das „Volk“!

Also kein Volksbuch. Aber was dann? Genau hier steckt der Wurm. Wie schon gesagt, erschien die Historia von D. Johann Fausten anonym. Bis heute wissen wir nicht, wer sie geschrieben oder zusammengestellt hat. Deswegen können wir auch in keiner Weise bei einer Interpretation auf eine Autorenintention zurück greifen. Die Angabe des Druckers auf dem Titelblatt (Johann Spies) hilft auch nicht weiter: Der Text fällt völlig aus dem Rahmen der ansonsten von diesem Drucker / Verleger bekannten Schriften. Das Rätsel bleibt ungelöstt^.

Zum Inhalt: Die Historia besteht aus drei Teilen. Zunächst das eigentlich Teufelsbündnis mit den ersten Abenteuern. Die sind aber kaum Abenteuer, sondern bestehen vor allem darin, dass Faust von ’seinem‘ Teufel (er heisst Mephistophiles) theologische Auskünfte verlangt – zum Beispiel über die Ordnung der Engel oder die Struktur der Hölle. Teil 2 beinhaltet eigentliche Abenteuer Fausts, bzw. schildert Faust den Astronomen und Astrologen, den Wissenschaftler und Forscher im engeren Sinn. Für seine Forschungen unternimmt er auch (mit Unterstützung des Mephistophiles natürlich) Ausflüge ins All und eine Reise um die Welt. Der dritte Teil (der Teil auch, der bei den Neudrucken im 16. Jahrhundert jeweils erweitert wurde) schildert Faust als Magier – de facto ohne seinen Teufel. Der kommt erst ganz am Ende wieder prominent ins Spiel, als Faust von eben ihm geholt wird.

Das Buch war – zumindest in den ersten 10 Jahren seiner verlegerischen Existenz – eine Art Kassenschlager und wurde in paar Mal aufgelegt. Wer das Publikum war, lässt sich, wie gesagt, nicht mehr eruieren. Der Inhalt deutet meiner Meinung nach auf ein Bürgertum, das im Horaz’schen Sinn des Prodesse et Delectare sowohl unterhalten wie belehrt sein wollte. Daher die Ausflüge in die Theologie, die Auszüge aus geografischen Schriften der Zeit (mit denen der Autor en passant viele Informationen über mehr oder weniger ferne Länder und Städte vermittelte) – aber auch zum Schluss die rein unterhaltenden, ‚magischen‘ Anekdoten.

Die theologischen wie die geografischen Quellen lassen sich eruieren (und sind in meiner Ausgabe – so weit sie vom Autor der Historia ausgezogen wurden – auch abgedruckt). Bei den theologischen Quellen befinden wir uns immer im Dunstkreis der Protestanten, eben so bei den ‚magischen‘: Luthers Tischreden und Melanchthon sind namentlich anzuführende Quellen. Geografisch zieht der Autor vor allem eine – heute nur dem Spezialisten bekannte – Quelle aus. Nur für die Schilderung Nürnbergs greift er (und man fragt sich, ob das einen Hinweis geben könnte auf seine Herkunft) auf eine umfangreichere Schilderung der Stadt von Hans Sachs zurück. Für den unterhaltenden, ‚magischen‘ Teil gilt: Einige Geschichten (denn jeder Teil der Historia enthält kurze Kapitel mit jeweils in sich abgeschlossenen Geschichten; ihre Reihenfolge ergibt ungefähr eine Biografie des fiktiven Johann Faust – vor allem spätere Hinzufügungen aber kümmern sich wenig um eine biografische Konsequenz) – einige Geschichten also spiegeln alte, antike Schwänke von Apuleius, Lukian, Terenz oder Plautus. Brants Narrenschiff wurde ausgezogen; Geschichten, die schon von anderen „Magiern“ (Albertus Magnus, Agrippa von Nettesheim) erzählt wurden, wurden schamlos Faust zugeschrieben. Vor allem im diesem dritten Teil finden wir auch Züge des Till Eulenspiegel in Faust – so, wenn er Höhergestellte (Adlige) bestraft, die ihn, den Bürgerlichen, sozial schneiden. (Nur, dass er – anders als Till – bei seinen Racheaktionen halt auf magische Kräfte zurück greift.)

Im Grunde genommen ein äußerst disparater Text. Dennoch hat nicht nur Goethe für seine beiden Faust-Teile darauf zurückgegriffen (Wagner, der Famulus Fausts, stammt zum Beispiel ebenso aus der Historia wie Mephistopheles, wie die Beschwörung Helenas und der Umstand, dass die beiden zusammen leben und ein gemeinsames Kind haben – beide verschwinden in der Historia spurlos, nachdem der Teufel seinen Faust geholt hat); Lessing entnahm ihr den zentralen Punkt, dass Faust vom Teufel nur über seine Wissbegierde zu packen ist. So wurde dieses seltsame Buch (Biografien fiktiver Menschen waren im 16. Jahrhundert noch etwas Unerhörtes – den Roman im heutigen Sinne gab es noch nicht!) zu einem Kristallisationspunkt vor allem der deutschen Literatur. Denn der Engländer Marlowe stellt in der Rezeptionsgeschichte des Faust eine Ausnahme dar. (Anders als die Herausgeber meiner Ausgabe, möchte ich das Faust-Thema nicht an die Seite des in etwa gleich alten Don Juan stellen – letzterer ist ein Figur mit größerer Resonanz. Gescheiterte Wissbegierde und übersteigerter künstlerischer Ehrgeiz (Thomas Manns Doktor Faustus!) sind ‚intellektuellere‘ Themen als der Sexus, den Don Juan feiert. Auch dies spricht, nebenbei, gegen eine Qualifikation des Büchleins als Volksbuch. Der Schauer, den man allenfalls für diesen Charakter geltend machen könnte, ist an einem kleinen Ort – praktisch nicht vorhanden. Auch wenn die rechtschaffen Gläubigen der Zeit ihn wohl mehr verspürt haben werden – immerhin war der Teufel für Katholiken wie Protestanten (Luther!) noch eine reale Gestalt, das Höllenfeuer eine reale Drohung.


Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Herausgegeben von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Ditzingen: Reclam, 2018 [11988]. (= RUB 1516)

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