Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik

Aus dem Titel des letzten Bandes der Studienausgabe in 6 Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, könnte man auf ein gewisses Sammelsurium an Inhalten schließen. Das stimmt in hohem Maß sogar; andererseits enthält dieser letzte Band doch noch einige der bekanntesten Schriften Immanuel Kants zu diversen Themen.

Es beginnt allerdings mit einem weniger bekannten Aufsatz, nämlich

Von den verschiedenen Rassen der Menschen [1775 / 1777]

Eine Vorlesungsankündigung von 1775, überarbeitet und zwei Jahre später in einer Zeitschrift des uns schon bekannten J. J. Engel publiziert. Grob gesagt, definiert Kant zunächst den Begriff „Rasse“, unabhängig davon, ob er nun auf Menschen oder auf Tiere angewendet wird. Danach postuliert er – so ziemlich ex cathedra (will sagen: ohne nähere Beweise oder Herleitung) – vier menschliche Rassen: Weisse, Schwarze, Mongolen und Inder (er verwendet zum Teil andere Begriffe aus seiner Zeit). Kant glaubt offenbar, dass die Umwelt – allem voran die Sonneneinstrahlung – auf Hautfarbe und Körperbildung Einfluss nimmt und dass einmal erworbene Veränderungen, wie das Stutzen des Schweifs bei den englischen Pferden, vererbt werden können. Außer, dass in einem Nebensatz die weißen Mitteleuropäer als die Norm gesetzt werden, mit der alle anderen Varietäten verglichen werden können, und dass Neger auch dann stinken, wenn sie sich waschen, ist nichts von Interesse für den heutigen Leser zu finden.

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht

In neun so genannten Sätzen (i.e. Kapiteln) skizziert hier Kant die Bedingungen, die eine aufgeklärte Weltgeschichte erfüllen müsste. Es fällt einmal mehr auf, dass auch Kant Geschichte als (langsamen) Weg hin zur Verbesserung der Bedingungen der Völker betrachtete – wie es alle seine aufgeklärten Kollegen in historicis damals taten.

Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

Die berühmte Frage (die auch Mendelssohn beantwortet hatte, was Kant nach eigener Aussage erst erfuhr, als er seine Antwort schon eingeschickt hatte), mit der ebenso berühmten Antwort:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. [Sperrdruck des Originals hier kursiv]

Wobei er diese Freiheit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dann letztendlich beschränkt auf den Wissenschaftler, der ein Phänomen untersucht. Es genüge hier Kants Beispiel des Offiziers, der als Wissenschaftler (sprich: in einer militärtheoretischen Schrift) sehr wohl die Organisation seines Heers kritisieren darf, vorausgesetzt, er gehorche dennoch im Alltag seinen Vorgesetzten.

Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse

Dieses Thema schien Kant keine Ruhe zu lassen. Aber außer dass er nun die kupferfarbenen Indianer als vierte Rasse begreift und nicht mehr die gelben Inder, hat sich seine Position nicht verändert.

Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte

Ein im besten rationalistischen Stil vorgetragener Versuch, nachzuweisen, dass die Schilderung der ersten Tage der Menschheit, die wir im biblischen Buch Genesis finden, durchaus als Versuch einer verschleierten Schilderung tatsächlicher Ereignisse gelten können.

Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee

Ein kleiner Aufsatz, der genau das beinhaltet, was der Titel verspricht: Kant weist nach, dass die Philosophie, i.e. die reine Vernunft, die Diskrepanz zwischen dem guten Gott und der schlechten Welt per definitionem nicht aufzulösen imstande ist.

Allerdings scheint es Kant dabei ein wenig unheimlich geworden zu sein, denn er fügt einen Schluss an, der mit dem Thema des Aufsatzes eigentlich nur locker verbunden ist. Er erzählt die Geschichte Hiobs nach, der, als er ins Unglück stürzt, als einziger darauf beharrt, immer ein rechtschaffener Mann gewesen zu sein (anders als seine Freunde behaupten), sein Unglück also nicht selber verschuldet zu haben. Hiobs Geschichte endet, so Kant, ja dann auch damit, dass Gott ihm darin Recht gibt. Neben einer Spitze gegen mehr oder weniger gut meinende geistliche Beistände, die, wenn jemand von einer schweren Not betroffen ist, darin gern als Ursache ein menschliches Verschulden gegen Gott sehen und zur Busse aufrufen (solche Leute – auch und gerade selbsternannte Geistliche! – gibt es bis heute), einer Spitze, deren sich Kant nicht enthalten kann, geht es ihm hier offenbar vor allem darum, noch einmal darauf hinzuweisen, dass persönliche Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit, das Befolgen des kategorischen Imperativs, den er explizit erwähnt, alles ist, was der Mensch leisten kann und soll. Auch Gott, so der Hintergrund von Kants Argumentation, wird nicht mehr verlangen können.

Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.

Dieser Aufsatz besteht aus drei Teilen.

Im ersten korrigiert Kant die Interpretation Garves, die dieser seiner Philosophie angedeihen liess. Es gibt für Kant, anders als es Garve sieht, keinen Unterschied in moralibus zwischen Theorie und Praxis. Was die Vernunft als moralisch richtig erkennt, wird auch das Herz als solches erkennen, könnte man Kants These in Garves Worten formulieren.

Im zweiten Teil setzt sich Kant mit der Staatstheorie von Thomas Hobbes auseinander. Darin will er Hobbes dahingehend korrigiert sehen, dass es kein Staatsoberhaupt gibt, das unbedingt und in allem über seine Staatsbürger entscheiden darf und kann. Ein Staatsoberhaupt ist denselben juristischen und moralischen Einschränkungen unterworfen wie diese, denn der Vertrag (Kant nimmt offenbar wie Hobbes und Rousseau an, dass eine menschliche Gesellschaft auf dem expliziten oder impliziten Schließen eines Vertrags zwischen Herrschenden und Beherrschten entsteht) gilt letztlich auch für ihn. Zwar meint Kant, anders als Hobbes, dass das Volk nicht berechtigt ist, nicht nur für sich, sondern auch für seine Kinder und Kindeskinder einen Staatsvertrag zu schließen, streitet aber dennoch dem Volk das Recht auf eine Verweigerung der Unterwerfung unter den Vertrag ab, das heißt das Recht, auf Tyrannenmord oder Revolution existiert nicht. (Was juristisch logisch ist: Ein mit dem Gedanken an ein Hintertürchen abgeschlossener Vertrag ist einigermaßen sinnlos.)

Teil 3 schließlich beschäftigt sich damit, dass in allgemein-philanthropischer, d.i. kosmopolitischer Absicht betrachtet ebenfalls kein Unterschied zwischen Theorie und Praxis herrsche, wie es Moses Mendelssohn behauptet habe. Kant meint damit, dass Menschenliebe in Theorie und Praxis sinnvoll ist, weil in der Menschheit ein, wenn auch langsamer Fortschritt in moralisch-politischer Hinsicht hin zum Guten existiere. Er spricht davon, dass man dies ja in seinem Jahrhundert bei allen kurzzeitigen Rückschlägen sehr wohl sehen könne.

(Ich weiß nicht, was der unerschütterliche Optimist Kant im 20., oder nun im 21. Jahrhundert zum selben Thema geschrieben hätte.)

Das Ende aller Dinge

beschäftigt sich mit eben diesem – der Apokalypse, dem Ende aller Zeit. Er benützt diesen Gedanken, um einerseits dem Zoraoastrismus mit dem Kampf zweier starken Kräfte des Guten und des Bösen eine Absage zu erteilen und andererseits das Christentum in den Status der liebenswürdigsten aller Religionen zu erheben.

Ein seltsamer Aufsatz.

Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf [1795]

Der erste längere Text in Band 6; zugleich einer, mit dem Immanuel Kant bis heute in der Politik, genauer im modernen Völkerrecht, Einfluss behalten hat.

In Form eines kommentierten Vertrags zeichnet Kant den möglichen Weg zu einem Weltfrieden auf, der noch dazu „ewig“ anhalten könnte. Grob gesagt besteht dieser Weg darin, dass die Kant’sche Moralphilosophie, sein kategorischer Imperativ also, auf die Politik angewendet werden soll, auf das Verhältnis zwischen zwei Staaten zum Beispiel. Frieden ist kein natürlicher Zustand zwischen Menschen oder zwischen Staaten (hierin geht Kant mit Hobbes einig, den er aber nicht nennt) – Frieden muss gestiftet und seine Einhaltung überwacht werden. Daraus leitet Kant die Möglichkeit und Notwendigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags ab – etwas, das (mutatis mutandis) die Aufstellung der Charta der Vereinten Nationen beeinflusst hat.

Die einzelnen Punkte seines Vertrags können auch im Internet nachgelesen werden. Sei stellen die Anwendung der praktischen Vernunft auf Staatswesen an Stelle von Menschenwesen dar.

Aus Sömmering [sic!] über das Organ der Seele

Offenbar hat der deutsche Anatom Samuel Thomas Soemmering (wie sein Name heute meist geschrieben wird) sich als Naturwissenschaftler an den Philosophen (und damit, meint Kant hier vor allem: Metaphysiker) in Königsberg gewandt, um seine Theorie des Sitzes der Seele absichern zu lassen. Kant muss ihn insofern enttäuschen, als er auch von Seiten der Philosophie keinen Sitz eben dieser auszumachen im Stande ist. Interessant ist der kurze Aufsatz aber durch die Feststellung, dass Kant von einem statischen, an einer Maschine orientierten Bild der geistigen Tätigkeit im physischen Gehirn abkommen möchte zu einem dynamischen, eher an chemischen Prozessen orientierten Modell.

Der Streit der Fakultäten [1798]

Der nächste längere Text. Kant, in Rückgriff auf die Probleme, die er unter Friedrich Wilhelm II. mit seiner religionsphilosophischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 gehabt hatte, versucht nun die Stellung der vier universitären Fakultäten zueinander zu definieren. Er unterscheidet dabei drei obere Fakultäten und eine untere. Die oberen, das sind die theologische, die juristische und die medizinische; die untere ist die Philosophie (wobei Kant darunter auch Fächer wie die Mathematik ein begreift).

Die drei oberen sind, so Kant, relevant für den Staat. Sie werden also einerseits in ihrem Gebiet ‚weisungsberechtigt‘ (wie man heute sagen würde) sein, andererseits ihrerseits Weisungen vom Staatsoberhaupt entgegen nehmen müssen. Die philosophische Fakultät gibt keine Weisungen heraus (und nimmt also auch keine an!); ihr ist die – wir würden heute sagen: wissenschaftstheoretische – Kontrolle über die anderen Fakultäten vorbehalten. (Etwas, das bis heute in der Einstellung der Philosophie zu den nunmehr ihrerseits eine eigene Fakultät darstellenden Naturwissenschaften hängen geblieben ist.) Mutatis mutandis wendet Kant auf die Fakultäten an, was er in seiner früheren Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (s. oben) zum Verhältnis des Offiziers zu seinen Vorgesetzten auf der einen und zu seiner Militärtheorie auf der anderen Seite angebracht hatte.

Als erstes Beispiel schildert Kant dann den Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen. Zusammengefasst kann man sagen, dass sich die philosophische Fakultät nicht in den Streit um eine Auslegung der Schrift einmischt (weil sie dann theologisch wird), sondern nur untersucht und unterscheidet, wie weit ein Glaube, eine Religion, von der praktischen Vernunft gefordert werden. Ob wir an eine Dreieinigkeit oder gar an eine Zehneinigkeit glauben sollen, betrifft den Glauben an sich nicht. Somit betrifft auch diese Frage die Philosophie nicht. Aber ob ein Glaube sein soll bzw. kann, ist eine Frage, in der die philosophische Fakultät entscheidet.

Im zweiten Teil folgt der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen.

Die Juristen sind allerdings darin nur insofern angesprochen, als es darum geht, dass Kant sich nochmals mit dem möglichen Fortschritt der Menschheit in moralisch-politischer Hinsicht beschäftigt, bzw. über die Frage, ob so ein Fortschritt prognostiziert werden kann, auf sein eigentliches Thema in diesem Abschnitt kommt – nämlich (ohne sie beim Namen zu nennen) – auf die Französische Revolution. Kant begrüßt sie nämlich als Fortschritt, als ein Zeichen, dass sich hier ein Volk eine ihm besser angepasste Verfassung geben wolle. Denn, dass das Oberhaupt nur Befehle erteile, ohne das Volk in irgendeiner Art einzubeziehen, lehnt Kant als längerfristig untaugliche Regierungsform ab. So lange so eine Revolution oder auch nur Reform aber interne Angelegenheit eines Staates bleibt, so der Schluss Kants aus den Prämissen, die er schon in Zum ewigen Frieden vorgelegt hat, dürfen sich die umliegenden Staaten nicht einmischen. Auch die Überreaktion anderer Staatsoberhäupter, die bereits kannegießern, d.h. Stammtischdiskussionen, in dem Sympathie für die Revolution ausgedrückt wurde, unter Strafe stellen, prangert der Philosophen aus Königsberg an.

Dennoch wird er zum Schluss dieses Abschnittes der Revolution eine Absage erteilen und auch er wird, wie fast alle deutschen Aufklärer die Hoffnung auf einen aufgeklärten Fürsten setzen, der eine sanfte Reform ‚von oben‘ durchführen soll.

Zum Schluss der Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen.

Ausgehend von einer Schrift Hufelands darüber, welche Maßnahmen ein Mensch selber ergreifen kann, um sein Leben zu verlängern, berichtet Kant über eigene Erfahrungen mit seinem Körper. Ein etwas seltsamer Text, wie ich finde – allenfalls für einen allfälligen Biografen Kants interessant. (Es wurde denn auch, wenn mich meine Erinnerungen an die eine oder andere Biografie nicht täuscht, weidlich ausgeschlachtet.)

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)

Der längste Text in Band 6. Es handelt sich um den Text der Vorlesungen zum Thema ‚Anthropologie‘, die Kant mehr als 20 Jahre lang an der Universität Königsberg gab / zu geben verpflichtet war. Kant schreibt selber in der Einleitung, dass dieser Vorlesung immer viele Laien beiwohnten – entsprechend ist der Inhalt denn auch recht populär gehalten.

Der erste Teil des Textes ist mit Anthropologische Didaktik überschrieben und trägt den Untertitel Von der Art das Innere, sowohl als das Äußere des Menschen zu erkennen; wir dürfen uns also getrost auf etwas Ähnliches gefasst machen wie Knigges Über den Umgang mit Menschen, ein Buch, das 10 Jahre vor Kants Anthropologie erschienen war, aber also rund 10 Jahre nachdem Kant seine Vorlesung zum ersten Mal gehalten hat. Wer hier wen beeinflusst hat, und ob überhaupt, kann ich nicht sagen.

Das erste Buch des ersten Teils handelt vom Erkenntnisvermögen. Aus heutiger Sicht kann man daraus entnehmen, wie sich der Laie Kant (aber wer war damals schon Fachmann auf dem Gebiet?) gewisse Tätigkeiten des Gehirns vorstellte – Kant spricht von Psychologie und unterteilt diese Tätigkeiten in welche des Verstands, der Urteilskraft und der Vernunft. Im weitesten Sinn stellt er zunächst also eine Art sensualistischer Erkenntnistheorie vor seine Leserschaft. Das geht dann unter anderem so weit, dass sogar eine kleine, allgemeine Zeichentheorie angehängt wird. Danach folgt eine Zusammenstellung der (wie ich es nennen möchte) Aberrationen der Hirntätigkeiten – von harmlosen Ticks der Leute bis zu psychiatrischen Fällen; selbst das schaffende Genie wird gestreift. (Und Kant ist ihm keineswegs günstig gesinnt! Wie auch – dies als kleines Aperçu am Rande – dem Lesen von Romanen, das seiner Meinung nach, vor allem, aber nicht nur bei Frauen, der habituellen Zerstreuung des Geistes Vorschub leistet. Heute hat diese Rolle im Denken vieler Pädagogen das Surfen im Internet übernommen …)

Buch 2 behandelt das Gefühl der Lust und Unlust; davon wiederum Teil A von die sinnliche Lust, was hier bei Kant nichts Unanständiges meint, sondern eigentlich das Interesse des erkennenden Subjekts am Erkannten zu zeigen versucht – mit Langeweile und kurzer Weile als Brennpunkt. (Das erst lange nach Aufnahme der Anthropologie-Vorlesungen entdeckte interesselose Wohlgefallen hat hier seine (populär-)psychologischen Wurzeln.) Im Grunde genommen haben wir eine Psychologie der Aufmerksamkeit vor uns; noch ist Kant hier stark in Shaftesbury verhaftet. Teil B geht über zum Gefühl für das Schöne und bringt eine Art Populär-Ästhetik, indem das Schöne nicht nur in der Kunst gesucht und gefunden wird, sondern auch im Modegeschmack oder in der Üppigkeit, will sagen: im guten und (über-)reichlichen Essen. Kant geht soweit Ratschläge zu erteilen, wie eine Gesellschaft im Spiel und in der Konversation zum nachfolgenden Diner geführt werden soll. Selbst Witze und Heiterkeit als solche empfiehlt er aufs Dringendste, um den Appetit zu schärfen und die Verdauung anzuregen.

Das dritte und letzte Buch des ersten Teils heißt Vom Begehrungsvermögen und behandelt die menschlichen Affekte und Leidenschaften. Im Großen und Ganzen stellt es also eine Populär-Ethik dar. Interessant für heutige Leser wohl am ehesten dadurch, dass Kant keineswegs einer Abtötung der Affekte und Leidenschaften das Wort führt – er ist diesbezüglich wohl eher Aristoteliker, auch wenn er die Gegensätzlichkeiten, die der alte Grieche in seiner Ethik eingeführt hatte, keineswegs schätzte. Aber Aristoteles geht über den Horizont dieser Vorlesung hinaus und wird mit keinem Wort erwähnt. Interessant hier vielleicht, dass Kant in diesem Buch auch den Selbstmord als Affekthandlung betrachtet und behandelt.

Der zweite Teil, Anthropologische Charakteristik, ist nun definitiv populärwissenschaftlich gehalten. Kant verzichtet auf jede Form eigenen Zutuns und referiert nur noch überkommene Theorien und Traditionen. So, wenn er unter dem Charakter von den vier Temperamenten spricht und dabei mehr oder weniger nur die klassische Humoralpathologie nachvollzieht, wie sie in der Medizin bereits am Verschwinden war. Im Abschnitt zur Physiognomik kennt er zwar sogar den vor relativ kurzer Zeit erst mit seiner Physiognomik bekannt gewordenen Lavater, verwirft dessen Werk und Wirken aber als Modetorheit. Allerdings hat er nichts Besseres an dessen Stelle zu setzen. Bei den Abschnitten zum Charakter des Geschlechts, des Volks und der Rasse verliert er sich endgültig in banalen Stereotypen über „die Franzosen“, „die Engländer“, „die Frauen“ oder „die Männer“. Beim schlussendlichen Versuch, einen Charakter der Menschengattung zu skizzieren, allerdings leistet er doch noch eine kurze Gesellschafts- und Vertragstheorie und schließt gar mit einer kleinen Utopie (in der er aber die Freiheit des Menschen dann dennoch eingeschränkt sehen will):

[…] mithin die Menschengattung nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen; wobei dann ihr Wollen im Allgemeinen gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, daß die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zusammenstimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, erwartet werden kann.

Immanuel Kant über Pädagogik (1803)

In seinen letzten Jahren versuchte Kant, seine Arbeiten zu diversen Themen, über die er im Laufe seiner Karriere geschrieben und vor allem öffentlich gelehrt hatte, in Buchform zu publizieren. Der gerade eben vorgestellte Text zur Anthropologie gehörte dazu und wurde auch noch von Kant selber zum Druck eingerichtet. Diese Schrift zur Pädagogik hier beruht ebenfalls noch auf Vorlesungen, die die Professoren der Philosophie an der Universität Königsberg (und somit auch Kant) damals zu nach heutigen Begriffen fachfremden Themen zu halten verpflichtet waren. Ihre Veröffentlichung ist zwar noch von Kant angestrengt worden; nur war er 1803 bereits nicht mehr in der Lage, sie noch auszuführen oder auch nur zu begleiten.

Schon der Beginn harzt. Man hat das Gefühl, dass sich Kant hier auf dünnem Eis bewegt – sprich: zu einem Fachgebiet sich äußern musste, das er nur ungenügend kannte, sich wohl nur angelesen hatte. Er tut, was er meistens tut: Er beginnt mit Definitionen – die nichts mehr zur Sache tun, weil die Pädagogik diese Begriffe (wo sie sie noch kennt und gebraucht) ganz anders benutzt.

Doch Kant bringt auch im Gesamten nicht mehr als Gemeinplätze. Und wenn er einmal Lichtenberg zustimmend zitiert, so ändert das nichts daran, dass der Göttinger in seinem Satz auch nur einen Gemeinplatz geäußert hat, dem man aus heutiger Sicht nicht mehr zustimmen wird, nämlich, dass man Kleinkinder schreien lassen soll, damit sie sich nicht daran gewöhnen, ihren Willen durchsetzen zu können – eine Erziehungsmaxime, die noch mir als frisch gebackenem Vater von meinen Eltern und Großeltern mitgegeben wurde, die wir aber fröhlich links liegen ließen, ohne dass ich heute sagen könnte, meine Kinder wären verwöhnte Bälger (gewesen). Immerhin wird man Lichtenberg zu Gute halten können, dass er – anders als Kant – in Erziehungsfragen aus eigener Erfahrung mitreden konnte.

Den Schluss machen ein paar Rezensionen Kants:

Zu einer Schrift eines italienischen Anatomen, was den aufrechten Gang des Menschen betrifft, den der Italiener für sehr ungesund hält. Kant referiert hier bloß den Inhalt, ohne Stellung zu nehmen.
Zu einem Buch von Johann Heinrich Schulz über den Versuch einer Sittenlehre ohne Bezug zu (irgend-)einer Religion. Kant äußert sich vorsichtig zustimmend.
Zu den Teilen I und II von Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Kant fasst einerseits Herder zusammen, kritisiert andererseits Herder für seine zu wenig stringenten Herleitungen der Begriffe und seinen zu laxen Umgang mit der Sekundärliteratur.
Zu einem Versuch über das Naturrecht von Hufeland, wo Kant mehr einzelne Details kritisiert als das Ganze (außer, dass er durchblicken lässt, das Thema sei wohl für den Autor allzu weit ausgefallen).

Alles in allem also haben wir in diesem Band tatsächlich ein Sammelsurium von Texten vor uns, die Kant mal mehr, mal weniger gut gelungen sind. Damit schließt Weischedel seine 6-bändige Auswahl und wir unseren kleinen Kant-Zyklus.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 10

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