Markus Bundi: Die letzte Kolonie

Markus Bundi ist Lehrer für Philosophie an der Alten Kantonsschule in Aarau, jener Schule also, die auch von Albert Einstein besucht wurde, von Hermann Burger oder auch vom vor allem in der Schweiz bekannten Autor und Liedermacher Franz Hohler. (Ein anderer Schweizer Liedermacher, der Berner Troubadour Mani Matter, ist übrigens im vorliegenden Roman prominent vertreten, sind es doch seine Lieder, die, weil verboten, von den Bewohnern der unterirdischen Kolonien in kleinen Akten von Subversion gesungen werden.) Bundi betreut auch die Ausgabe der Werke von Hermann Burgers Freund Klaus Merz. Und er schreibt selber.

So zum Beispiel den vorliegenden Roman. Er handelt in einer unbestimmten Zukunft, als Ressourcenknappheit und Überbevölkerung offenbar dazu führten, dass (überall auf der Welt oder nur in der Gegend, in der der Roman spielt? – Bundi lässt das in der Schwebe) die Bevölkerung sich in zwei Gruppen teilte: eine privilegierte, die an der Oberfläche bleiben durfte und dort weiter die Segnungen des Kapitalismus genoss, und eine, der man alle Privilegien weggenommen hatte, sie in bestehende oder extra angebaute Höhlen unterirdisch versorgt hatte, wo sie als Kolonie der (im wahrsten Sinn des Wortes!) Oberschicht zuzudienen hatten. Die Untersch, wie sich die Unterschicht im Roman abkürzt, graben nach seltenen Erzen oder recyceln (von Hand!) Plastik und PET. Sie werden von oben mit Nahrungsmitteln versorgt (meist einer Art Kartoffelbrei) und mit Wasser. Dieses Wasser nennt sich Wasch und ist mit Chemikalien versetzt worden, die bewirken, dass der Sexualtrieb der Untersch unterdrückt wird, auch ihr Denkvermögen und ihre Tatkraft wird dadurch eingeschränkt.

In drei Abschnitten erzählt Bundi, wie sich die Untersch aus der Bevormundung durch die oben lebenden Menschen befreien, bis schließlich ein endgültiger Kollaps des Öko-Systems (Stichwort: Klimakatastrophe!) auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Oberen derart verändert, dass der Politik nur die Lösung einer Diktatur als noch praktikabel erscheint – mit dem Effekt, das zum Schluss de facto alle Menschen zu einem Höhlendasein verurteilt sind. Nur, dass jetzt die paar noch übrigen gebliebenen Oberen keinerlei Lust oder auch nur Möglichkeit mehr haben, die Unteren zu ernähren und zu beschäftigen.

Jeder Abschnitt erzählt von einer bestimmten Epoche in diesem Geschehen; jeder Abschnitt hat denn auch seine eigenen Erzähler:innen und zum Teil seine eigenen Protagonist:innen. Teil I (Bericht von der guten alten Zeit) erzählt in der auktorialen Form von Florio, der durch den Genuss des (illegalen) Anderwassers – also nicht mit Chemikalien versetzten Wassers – seine Denkfähigkeit wenigstens in gewissem Maß zurück erhalten hat, ebenso seinen Mut und seine Tatkraft. Und seinen Sexualtrieb. Was macht, dass, als er sich mit seiner Freundin Natalia auf den Weg nach oben macht, diese bereits schwanger ist. Florio und Natalia gelingt es dennoch, nach oben zu kommen, und sie setzen dadurch einen Prozess der Emanzipation der Untersch in Gang.

Abschnitt II (Grenzüberschreitungen) berichtet dann von der Blütezeit der Untersch, die fast nach Belieben nach oben kommen können und sich dort unbemerkt unter die Bevölkerung mischen. Diese Form von Revolution ist nicht ganz gewaltlos – die Ich-Erzählerin dieses Abschnitts ist Sophia, die Tochter von Natalia und Florio. Sie ist selber eine der ersten, die sich gerade so oft und so bequem an der Oberfläche bewegen wie im Untergrund. Allerdings sind diese Grenzüberschreitungen „oben“ nicht ganz so gern gesehen. Man versucht, Spitzel ins System „unten“ einzuschleusen, die herausfinden sollen, wer da wie arbeitet. Sophia ist eine, wenn nicht die Killerin, die diese Leute mit ihrem Pappenheimer (so wird ihre Pistole „unten“ genannt) kaltblütig umbringt, was ihr den Spitznamen Kalte Sophie eingetragen hat. Bereits in Abschnitt II machen sich auch die ersten Zerfallserscheinungen „oben“ bemerkbar – unter anderem darin, dass mindestens so viele Menschen von „oben“ nach „unten“ wollen wie umkehrt und dass das abstumpfende Wasch in der Oberwelt zur beliebten Droge wird.

Der letzte, kürzeste Abschnitt (Die Bedingungen der Schwerkraft) spielt nach dem Kollaps. Ebenso unausweichlich, wie ein Stein, der angehoben und dann losgelassen wird, nach unten fällt, ist die Klimakatastrophe eingetreten. Das Resultat ist unter anderem auch Nahrungsknappheit bei der Oberschicht. Die Regierung sieht sich gezwungen, diktatorisch durchzugreifen. Sie hat zum Beispiel auch jede Forschung über die Vergangenheit verboten. Die Erzählerinnen dieses Abschnitts sind drei Historikerinnen, die sich dem insgeheim widersetzen. Sie nennen sich Tick, Trick und Track und leben und schreiben in einer Höhle. In diesem Abschnitt erhellt Bundi vor allem das eine oder andere Rätsel um die Personen der beiden ersten Abschnitte, die diese selber nicht erklären konnten. So scheint der Umstand, dass da plötzlich ein paar Untersch an Anderwasser gekommen und „erwacht“ sind, auch nur ein weiteres (bösartiges) Experiment der Oberen gewesen zu sein, die einfach mal schauen wollten, wie sich diese tumben Untersch an der Oberfläche verhalten würden. Und es scheinen auch viel mehr Leute Spitzel existiert zu haben, als selbst die Kalte Sophie vermutet hat.

Bundi – er weist im Roman selber darauf hin – hat vieles aus der Philosophie- und Literaturgeschichte genommen. Schon früh im ersten Abschnitt taucht ein Theaterstück eines anonymen Autors auf, in dem sich ein gewisser Sokrates und ein gewisser Glaukon über Menschen unterhalten, die in Höhlen leben, und was mit ihnen geschieht, wenn und falls sie an die Oberfläche kommen. (Dass Bundi sich dann im dritten Teil offenbar dazu verpflichtet fühlt, die drei Historikerinnen erklären zu lassen, dass das Original selbstverständlich von Platon sei, was die Untersch aber nicht gewusst hätten, ist allerdings etwas, das er hätte weglassen sollen. Das Stück spielt – auch in der durch Florio adaptierten Form – im Verlauf der weiteren Handlung keine Rolle mehr, und es besteht kein Grund, warum die drei Historikerinnen ausgerechnet auf dieses Detail hätten eingehen sollen.) Die Bildung von Kolonien dann wird explizit auf Thomas Morus’ Utopia zurückgeführt, einen Text, man in jener Zeit, in jenem Land offenbar als ökonomisches Sachbuch gelesen hat.

Beim Land übrigens, in dem die Handlung spielt, muss es sich um die Schweiz handeln, da einmal auf die 7 Weisen angespielt wird, die diese Form von unterirdischer Kolonialisierung angestoßen hätten – also doch wohl der Bundesrat (die Schweizer Regierung), der sieben Mitglieder zählt. Auch ist die Stadt, in der Florio das Licht der Oberwelt erblickt, eindeutig Bern; die Sprache, die die Untersch miteinander sprechen, und von der Bundi ein paar Beispiele gibt, eindeutig Berner Dialekt.

Summa summarum eine klug geschriebene Dystopie. Ein paar Details mögen stören, weil sie nicht ganz zu Ende gedacht worden sind – zum Beispiel werfen die Chips, die nur den Oberen eingesetzt werden und zwar in früher Kindheit und so unter eine Schlagader, dass sie nur schwierig zu entfernen sind, dann doch die Frage auf, warum die Oberen kontrolliert werden müssen und nicht die Unteren (die Frage wird nicht gestellt und also auch nicht beantwortet), und die verdutzte Bemerkung, dass man doch jederzeit, was man hineinoperieren konnte, auch auf die gleiche Art wieder herausoperieren kann, ohne gleich die Person derart zu verunstalten, wie das offenbar im Roman mit einer der Hauptfiguren geschehen ist.

Trotz dieser missglückten Details aber durchaus spannend und lesenswert.


Markus Bundi: Die letzte Kolonie. Wien: Septime Verlag, 2021

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