Edgar Allan Poe: The Murders in the Rue Morgue

Mit dieser Kurzgeschichte hat Poe die Ära des modernen Kriminalromans eingeläutet. Hier finden wir zum ersten Mal in der Geschichte der Literatur den außergewöhnlich begabten Detektiv, der mittels eben dieser außergewöhnlichen Begabung in der Lage ist, auch unlösbar scheinende Fälle zu klären. Ja, wir finden zum ersten Mal überhaupt auch die unlösbar scheinenden Fälle. Die außergewöhnliche Begabung von Auguste C. Dupin, dem Detektiv von Edgar Allan Poe, liegt im logisch-analytischen Bereich. Viele spätere Detektive sollten das übernehmen – allen voran natürlich Sherlock Holmes. Andere würden eher über außergewöhnliches Einfühlungsvermögen verfügen, noch andere sogar ’nur‘ über außergewöhnlich viel gesunden Menschenverstand. Ebenso wegweisend wurde Dupin mit einer ziemlich extravaganten Lebensweise und einem exzentrischen Charakter, der ihn auch ohne sein Talent aus der Reihe der übrigen Menschheit herausgehoben hätte. (Tatsächlich ist, während die außergewöhnliche Begabung nicht nur im logisch-analytischen Bereich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Schreibenden zusehends zurück gefahren wurde, die Charakterologie der Ermittelnden zusehends in den Mittelpunkt der Kriminalromane gerückt: Waren Detektive wie Dupin, Holmes oder Poirot einfach nur schrullig, so wurden die ermittelnden Kommissare und Kommissarinnen immer mehr zu völlig kaputten Typen, psychischen Wracks, denen man eigentlich lieber nicht auf der Straße begegnen möchte.)

Ein weiteres stilbildendes Merkmal ist Poes Erzählweise. Wir haben neben dem ermittelnden Detektiv seinen Freund, der als Erzähler fungiert. Dieser Freund verfügt über einen durchschnittlichen Verstand. Er sieht und hört alles, was der Detektiv auch sieht und hört – dennoch aber sieht und hört er genau die wichtigen Dinge nicht. Bei Poe bleibt dieser Erzähler namenlos, später wird in dieser Rolle ein gewisser Dr. Watson in die Literaturgeschichte eingehen. (Übrigens spielt schon Dupin seinem Freund den Streich, ihm einen Gedankengang zu bestätigen, den dieser gar nicht laut geäußert hat, und ihm dann zu erklären, wie er an Hand verschiedener äußerer Merkmale des Freundes Gedanken rekonstruieren konnte. Auch Holmes liebte dieses Spiel bekanntlich.)

Last but not least sind bei Poe zum ersten Mal übernatürliche Motive oder gar Lösungen der gestellten Rätsel von Anfang an ausgeschlossen. In keinem Moment der Geschichte denken Dupin oder sein namenloser Freund an einen Ein- bzw. Angriff irgendwelcher Geister oder Dämonen. Es geht bei Poe völlig natürlich zu, trotzdem selbst das Motiv des von innen verschlossenen Raums, in den eigentlich kein Mensch hinein und kein Mensch heraus kommen konnte, schon verwendet wird: Die beiden Frauen wurden in ihrer von ihnen abgeschlossenen Wohnung brutal ermordet. Und natürlich darf, damit die schon fast übernatürliche Begabung des Detektivs so richtig glänzen kann, die Lösung des Rätsels keineswegs banal sein. Im vorliegenden Fall kann denn auch wohl nur ein überragender Verstand wie derjenige von Auguste Dupin bei der Besichtigung des Tatorts zum Schluss kommen, dass der Mord nicht von einem Menschen, sondern von einem Orang Utan verübt wurde, der einem Matrosen entlaufen ist. Auch mit solchen extravaganten Lösungen wurde Poe vorbildlich. Also Außergewöhnliches: ja; Übernatürliches: nein – so könnte man Poes Grundrezept zusammenfassen.

Es ist die Summe aller dieser Merkmale, die Poe zum „Erfinder“ des modernen Kriminalromans macht, zusammen mit der Tatsache, dass Dupin eine Figur ist, die vom Autor mehrmals verwendet wurde. Also gewisser Massen ein Serien- oder Wiederholungstäter. E. T. A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi käme die Ehre des stilbildenden Kriminalromans zu, wenn der Deutsche seine Französin mehr als ein einziges Mal hätte auftreten lassen. Sie blieb aber eine Randerscheinung in Hoffmanns Werk.

Nur der Anfang von Poes Kurzgeschichte ist nicht stilbildend geworden: Ausgehend von einem Zitat aus einer Schrift von Sir Thomas Browne, dem barocken Universalgelehrten, der sich unter anderem ausgiebig mit den bronzezeitlichen Urnengräbern in seiner Heimat Norfolk beschäftigt hatte – ausgehend also von Browne (und vom Schachspiel!) versucht der Ich-Erzähler sich an einer Analyse (oder zumindest Beschreibung) des analytischen Denkens, wie er es dann bei Dupin vorfindet. Schon dies würde die Geduld heutiger Krimi-Lesenden auf eine arge Folter spannen, doch dann beschreibt unser Erzähler auch erst noch, wie er überhaupt Dupin in Paris kennen gelernt hat und wie sie zusammen eine Wohnung bezogen haben. Vor allem der erste, theoretische Teil wurde aus Rücksicht auf das Aufnahmevermögen des Publikums in vielen späteren Veröffentlichungen der Kurzgeschichte kurzerhand weggelassen. (Womit dann allerdings der namenlose Ich-Erzähler dümmer hingestellt wird, als er von Poe gezeichnet wurde.)

Fazit: Eine in ihrer vollständigen Fassung auch 180 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung noch immer lesenswerte Geschichte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert