Alfred Gall: Stanisław Lem. Leben in der Zukunft

Außerhalb seiner Heimat Polen ist es wohl der deutsche Sprachraum, in dem der Science-Fiction-Autor Stanisław Lem am bekanntesten ist. Schon sehr früh gab es – zunächst in der DDR, später auch in der BRD (und oft dann sogar dort früher als im sozialistischen Bruderland Polens, weil der spätere Lem von der staatlichen Zensur zunehmend kritisch beäugt wurde) – schon früh also gab es deutsche Übersetzungen. Hingegen ging er in den USA nach anfänglichem Ruhm rasch wieder vergessen, nachdem er 1973 zunächst Ehrenmitglied der SFWA (Science Fiction Writers of America) geworden war, aber bereits 1976 wieder ausgeschlossen wurde – teils wegen seiner nicht sehr freundlichen Bemerkungen über die US-amerikanische Science Fiction, teils auf Betreiben von Philip K. Dick, der sich (warum genau wissen die Götter) dazu hinreißen ließ, Lem in einem öffentlich gemachten Brief als Autorenkollektiv zu bezeichnen, das in konspirativer Absicht unter dem Deckmantel der Science-Fiction kommunistische Propaganda betreibe (S. 201 dieses Buchs). Aber was ich eigentlich sagen wollte: Trotz seiner relativ großen Bekanntheit im deutschen Sprachraum ist das hier vorliegende Buch von Alfred Gall die erste deutschsprachige Biografie des polnischen Autors.

Nebenbei: Wenn ich oben vom „ Science-Fiction-Autor Stanisław Lem“ geschrieben habe, tue ich damit natürlich Lems Selbstverständnis Unrecht. Science Fiction war für ihn Mittel zum Zweck, etwas, in das er eher gegen seinen Willen gerutscht war, da er lieber naturwissenschaftlich publiziert hätte. Doch er hatte aus verschiedenen Gründen nicht einmal sein Medizinstudium mit allen notwendigen Prüfungen abgeschlossen, und so blieb ihm diese Karriere verwehrt.

Gall folgt in seiner Biografie Lems Leben von seiner Kindheit und Jugend in Lwów / Lwiw / Lemberg (1921-1939) (so der Titel von Kapitel 1) an. Schon im Namen der Stadt, in der Lem aufgewachsen ist, verbirgt sich ein wichtiger Aspekt seines Lebens. Das zur Zeit seiner Geburt polnische Lemberg sollte nach dem Zweiten Weltkrieg ukrainisch werden. Dazwischen aber lagen noch die Ereignisse von Kapitel 2: Krieg und Okkupation. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts nämlich wurde Lemberg 1939 bei Kriegsausbruch von sowjetischen Truppen besetzt, 1941 dann von deutschen. Waren sowieso sämtliche Polen den Russen als Freiheitskämpfer und potenzielle Partisanen verdächtig, so musste sich der Jude Lem vor den Nazis erst recht in Acht nehmen. Das sollte ihn, so Gall, für den Rest seines Lebens prägen und ihm eine fast instinktiv zu nennende Vorsicht und Zurückhaltung in seinen öffentlichen Äußerungen zum Beispiel zur Lage der polnischen Nation verleihen. Denn während er später im privaten Kreis mit Kritik an den verschiedenen kommunistischen Regierungen Polens nicht zurückhielt, konnten ihn auch seine besten Freunde nicht überreden, seine Kritik auch öffentlich kund zu tun – zu tief saß seine Angst vor Repressionen.

Im Verlauf des Buchs können wir sehen, wie Lem in den 1950ern seinen Durchbruch als Autor erlebt – leider für ihn (zum Glück für uns) eben in der Belletristik, der Science Fiction, und nicht in den Naturwissenschaften. In den zwischendurch immer mal wieder auftretenden Tauwettern der polnischen Politik konnte Lems Karriere zusätzlich an Geschwindigkeit aufnehmen, um dann von den folgenden Frostperioden nur unwesentlich gebremst zu werden. Zwar war auch er der Zensur unterworfen und musste erleben, dass Texte von ihm nicht veröffentlicht werden durften, meist aber gelang es ihm, sie früher oder später doch zu publizieren – und sei es im Westen.

Die 1960er sind Lems große Zeit als Autor von Science-Fiction-Romanen: Transfer, Memoiren, gefunden in der Badewanne oder Solaris werden alle 1961 veröffentlicht, Der Unbesiegbare und Pilot Pirx 1964 bzw. 1968. Es folgt aber bereits die erste Kritik der futurologischen Vernunft, wie es Gall formuliert: Lems Summa technologiae, ebenfalls 1964. (Wo Gall an Kant erinnert, erinnert Lem an Thomas von Aquin.)

Zwischendurch emigriert Lem sogar in den Westen, nach Wien. Er wird sich allerdings – auch hier ein Kind der Vorsicht – nie als Autor im Exil bezeichnen. Seine Produktion verändert sich. Zunächst wird die Science Fiction zu Gunsten anderer literarischer Genres praktisch aufgegeben: zum Beispiel des Kriminalromans oder von Memoiren. Das durch Gorbatschow eingeleitete Tauwetter ermöglicht Lem, nach Polen zurück zu kehren, aber er wendet sich mehr und mehr von der Belletristik ab und der Publizistik zu. In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten hat der den Ruf einer „Kassandra von Krakau“ wegen seiner zusehends pessimistischeren Weltsicht. Zivilisationskritik statt futuristische Märchen.

Wie es sich für eine Biografie gehört, fehlt auch Anekdotisches nicht. So die, wie sich der Autonarr Lem schon früh aus der DDR einen P 50 besorgt – um sich damit unter anderem mit Freunden auf der Strasse zu seinem Haus Rennen zu liefern. Später besaß Lem verschiedene Mercedes – um jedes Mal zu schimpfen, wenn es darum ging, sich eines der in Polen kaum auffindbaren Ersatzteile für seinen Wagen zu besorgen. Hingegen wird Lems Verhältnis zu den Frauen kaum gestreift; selbst seine Gattin erscheint nur als Randfigur in Galls Biografie. Das finde ich ja an und für sich so übel nicht.

Soweit ein kurzer Abriss von Lems Leben, wie es in diesem Buch dargestellt wird. Alfred Gall, der Autor, ist seit 2006 Professor für westslavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und wissenschaftlicher Leiter des Mainzer Polonicums. Als Literaturwissenschaftler, der er also ist, kann er sich nicht enthalten, das eine oder andere Werk Lems nicht nur vorzustellen, sondern auch zu interpretieren. Ich stimme nicht in jedem Fall (wo ich Lems Werk überhaupt schon gelesen habe – Gall kennt mehr vom Polen als ich) mit seinen Interpretationen überein. So zum Beispiel bin ich immer noch der Meinung, dass wir in Transfer eine utopische Gesellschaft vor uns haben, in der Gewalt an Frauen endgültig Vergangenheit ist. Gall sieht im Roman eine Dystopie, weil die „Kastration“ der Männer (meine Wortwahl!) etwas Künstliches sei. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass es sich bei Memoiren, gefunden in der Badewanne um einen klaustrophobischen Abklatsch von Kafkas Schloss handelt, nicht um die Darstellung einer Desinformation durch Überfütterung mit Daten.

Abgeschlossen wird das Buch (comme il faut) mit einer Bibliografie (eigentlich zwei: eine zu den Texten Lems (in Auswahl) und eine zu Texten über Lem, dessen Werke und den ganzen Kontext von dessen Leben und Werk (ebenfalls in Auswahl)) und einem Register (wiederum eigentlich zwei: eines zu den Erwähnungen der Werke Lems und ein Personenregister). Es kann also als Basis dienen zu einer weiteren Beschäftigung mit Lem, seiner Zeit und seinen Werken – was durchaus wünschenswert ist.

Ich halte diese Biografie im Großen und Ganzen für sehr gelungen. Sie bringt nicht nur viele Informationen zu ihrem Subjekt Lem, sondern auch zu dessen gesamter Lebenssituation, der privaten ebenso wie der politischen. Gerade für im Westen Aufgewachsene ist die innerliche und äußerliche Lage eines Menschen in den damaligen kommunistischen Oststaaten schwer nachvollziehbar. Man bekam ja hier wenig davon mit. Galls Biografie ist also auch ein diesbezüglicher Nachhilfeunterricht. Ich für meinen Teil habe gelernt, dass ich gefühlsmässig einige Texte Lems viel zu spät angesetzt habe (so Solaris, das ich als eines seiner letzten eingeschätzt hatte). Auch Lems „private Seite“ kennen zu lernen, ist interessant. Also durchaus eine Leseempfehlung von mir.


Alfred Gall: Stanisław Lem. Leben in der Zukunft. Darmstadt: wgbTheiss [ein Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft], 2021

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