Robert Musil: Projekte 1900-1942. Unveröffentlichte Werke aus dem Nachlass

Dies ist der letzte Band der neuen 12-teiligen Gesamtausgabe von Robert Musils Werken, die seit 2017 bei Jung & Jung erschienen ist. Ursprünglich mit großen Ansprüchen gestartet (Größtmögliche Lesefreundlichkeit zu erreichen und dabei Wissenschaftlichkeit zu wahren, so lautet die oberste Maxime (Band 1, Nachwort des Herausgebers, S. 519) [Der Punkt am Ende dieses Satzes, der zugleich Ende des ersten Abschnitts ist, fehlt schon im Original – es sollte sich als Omen für die ganze Ausgabe herausstellen, die auch schön anfing, um im Desaster zu enden.]), verlor die Ausgabe bereits nach der Hälfte (die ersten sechs Bände waren dem Mann ohne Eigenschaften gewidmet) jedwede wissenschaftliche Brauchbarkeit. Ursprünglich sollte es sich hier um eine Hybrid-Ausgabe handeln. Sprich: Der Text in Print, der kritische Apparat elektronisch im Internet. Aber nun begann ein Lavieren und Ändern, so, dass ab Band 7 praktisch nach jedem Band die weiteren Bände anders hießen und anderen Inhalt hatten. Einiges von dem, was ursprünglich versprochen worden war, fiel mehr oder weniger ganz weg. Der kritische Teil fehlte seit längerem, indem die dafür designierte Seite (musilonline.at) schon während der Herausgabe des Mann ohne Eigenschaften nicht mehr gepflegt wurde, und was eingestellt war, so unübersichtlich ist, dass man es nicht brauchen kann.

Vergleichen wir nur schon einmal die Inhaltsangabe der Werkausgabe, wie sie im ersten Band vorgesehen war, mit der des letzten Bandes, die dann der gelieferten Realität entspricht. Versprochen also wurde ursprünglich Folgendes:

  1. Der Mann ohne Eigenschaften 1
  2. Der Mann ohne Eigenschaften 2
  3. Der Mann ohne Eigenschaften 3
  4. Der Mann ohne Eigenschaften 4
  5. Der Mann ohne Eigenschaften 5
  6. Der Mann ohne Eigenschaften 6
  7. Selbständige Veröffentlichungen
  8. Unselbständige Veröffentlichungen 1
  9. Unselbständige Veröffentlichungen 2
  10. Fragmente aus dem Nachlass
  11. Tagebuchhefte
  12. Briefe

Schon damals, 2017, äußerte (wenn ich mich recht erinnere) ein Kritiker oder eine Kritikerin der NZZ Zweifel daran, ob die Menge der überlieferten Briefe Musils tatsächlich in nur einem Band abgehandelt werden könnten.

Es sollte aber viel schlimmer kommen. Schon mit Band 6 schlichen sich erste Änderungen in Details ein, die ich aber überging, war doch dieser Band immer noch der versprochene Abschluss des Mann ohne Eigenschaften. Ab Band 7 aber wurde der weitere Inhalt der Werkausgabe von Band zu Band gewechselt, bis wir zum Schluss nun Folgendes vor uns haben:

  1. Der Mann ohne Eigenschaften 1
  2. Der Mann ohne Eigenschaften 2
  3. Der Mann ohne Eigenschaften 3
  4. Der Mann ohne Eigenschaften 4
  5. Der Mann ohne Eigenschaften 5
  6. Der Mann ohne Eigenschaften 6
  7. Bücher I
  8. Bücher II
  9. In Zeitungen und Zeitschriften I
  10. In Zeitungen und Zeitschriften II
  11. In Zeitungen und Zeitschriften III
  12. Projekte

Tagebücher und Briefe fehlen zum Schluss ganz. Als zum ersten Mal davon die Rede war, dass die Briefe keinen Platz finden würden, hat man noch davon gesprochen, sie als eine Art Anhang und in der gleichen Aufmachung wie die Werke später herauszugeben. Davon habe ich unterdessen auch nichts mehr gehört, und ich glaube nicht, dass ich mir diesen Anhang – falls er wider Erwarten doch erscheint – noch besorgen werde. Die ohne Not neu gewählten ungelenken Titel (Bücher und In Zeitungen und Zeitschriften), sowie der unvermittelte Wechsel von arabischer zu römischer Nummerierung verweisen meiner Meinung nach auf eine plötzlich eingetretene Orientierungslosigkeit von Herausgeber und Verlag.

Aber genug nun über die Gesamtausgabe, die so wenig mehr eine „Gesamt“-Ausgabe mehr ist, wie sie „kritisch“ oder „wissenschaftlich“ ist. Werfen wir einen Blick in Band 12:

Nun vertrete ich seit langem die Meinung, dass es meistens einen guten Grund gibt, wenn es Werke gibt, die ein:e Autor:in zu Lebzeiten nicht herausgibt, sondern über Jahre in einer Schublade aufbewahrt. Die meisten guten Autor:innen können die Qualität ihres Output sehr wohl einschätzen, und was unveröffentlicht bleibt, sind meist Dinge, die zwar eventuell noch verbessert werden könnten, aber dann sich jeder solcher Verbesserung schlussendlich doch entziehen. Äußerliche Umstände mögen eine Publikation zwar manchmal auch verhindern helfen, wie in Musils Beispiel der Umstand, dass er sich einerseits von einem gewissen Moment an praktisch ausschließlich auf die Weiterführung seines Mann ohne Eigenschaften konzentrierte und dafür alles andere liegen ließ, andererseits natürlich unter der Ausbreitung des Nationalsozialismus kaum noch Publikationsmöglichkeiten fand. Dennoch kann ich auch hier feststellen: Wenn von den hier vorliegenden Projekten nichts veröffentlicht wurde, so hat das auch seinen Grund in deren Qualität, die offenbar der Autor selber als ungenügend einstufte. Somit sind auch bei Musil solche Stücke aus dem Nachlass vor allem für Spezialisten und ein paar eingefleischte Fans von ihm.

Am meisten angesprochen von allen in Band 12 veröffentlichtn Fragmenten hat mich noch das allererste (und damit früheste – denn die Textes sind in chronologischer Reihenfolge ihres Entstehens gelistet): Blätter aus dem Nachtbuche des Monsieur le vivisecteur. Der Titel klingt ein wenig nach Schauerromantik, ist es aber nicht, oder höchstens in dem Sinn, dass es dem jungen Musil hier recht gut gelingt, eine faszinierende, aber undefinierbare Atmosphäre um seine Figuren aufzubauen, die mich jedenfalls doch faszinierte. Man sieht zumindest die Pranke des Löwen, der solche Stimmungsbilder dann im Törleß und im Mann ohne Eigenschaften in Vollendung bringen konnte. Ansonsten finden wir Musil als Literaturkritiker, der sich mit Arthur Schnitzler beschäftigt; wir finden den Literaturtheoretiker, der sich an einer Definition der Novelle abarbeitet (ohne ein schlüssiges Resultat liefern zu können, weshalb er diese Versuche wohl liegen ließ); ja, Die Ziele der Dichtkunst werden untersucht, und Ethik und Ästhetik; zwei Dramenfragmente von 1918 spielen unter Soldaten im Ersten Weltkrieg – nichts Besonderes dabei; Texte zur Psychologie und Metakritiken zu Literaturkritiken und -kritikern (Alfred Kerr!); Reden zur Lage des Schriftstellers aus dem Jahr 1935; von den Herausgebern Aphorismen genannte Fragmente, die aber für Aphorismen zu wenig straff geführt sind, für allgemeine Gedanken zu vage und wohl deshalb liegen blieben. Alles in allem ein Potpourri, das vor allem interessant ist, weil man daran Leben und (schriftstellerische) Entwicklung Robert Musils verfolgen kann.

Somit stellt Band 12 zwar keinen ganz versöhnlichen Abschluss dieser missglückten Werkausgabe dar, aber auch keine Katastrophe.

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