Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau

Distanzmärsche werden einige von uns aus ihrer Zeit beim Militär kennen. Die allerdings beschränkten sich dann doch auf den Zeitraum eines einzigen Tages oder einer einzigen Nacht. Märsche über größere Distanzen, über Tausende von Kilometern eventuell sogar, kennen die meisten nur vom Hörensagen. Wer sich ein bisschen in der deutschen Literatur auskennt, wird bei diesem Thema sofort an Johann Gottfried Seume denken, der 1801 / 1802 zu Fuß von Sachsen nach Sizilien wanderte. In seinem Bericht darüber sollte er diesen Gewaltsmarsch verniedlichend einen Spaziergang nennen. Eventuell denkt man in der deutschen Literatur dann auch an Friedrich Hölderlin, der praktisch am gleichen Tag in seiner Heimat Schwaben losmarschierte wie Seume in Sachsen – der Schwabe aber in Richtung Bordaux, wo er eine Stelle als Hauslehrer antreten sollte. Nur wenige Zeit später marschierte er von dort wieder in die Heimat zurück, wo er zum Schrecken von Freunden und Bekannten etwas mehr als ein Vierteljahr später bereits wieder auftauchte, in völlig abgerissenem und verwildertem Zustand. Heute ist ‚Fernwandern‘ zum Hobby geworden, und ich weiß nicht, ob der Autor des vorliegenden Buchs, Wolfgang Büscher, diesem Hobby bereits vor seiner Wanderung von Berlin nach Moskau frönte. Er sagt nichts darüber.

An einem schönen Sommermorgen im Jahr 2001 aber schließt Wolfgang Büscher die Tür seiner Berliner Wohnung hinter sich zu und macht sich auf. Zu Fuß und gen Osten, Richtung Moskau. Die Redewendung mit der Tür, die er hinter sich schließt, wird im Text noch einige Male auftauchen – sie bedeutet für den Autor offenbar so viel, wie ein Abschluss mit einer größeren oder kleineren Partie seines Lebens. Er wird bei Wintereinbruch in Moskau ankommen, nachdem er die ehemalige DDR, Polen, Belarus und Teile Russlands durchwandert hat. Auch er wird, wie Hölderlin, unterwegs je länger, desto mehr in einen verwilderten und verwahrlosten Zustand geraten – so sehr, dass er sogar einige Personen mit seinem Aussehen erschreckt und man ihm zum Teil in Restaurants nichts zu essen geben will, in Hotels kein Zimmer für die Nacht oder auch nur keine Mitfahrt im Bus gewährt. (Denn, um genau zu sein, wandert Büscher nicht die ganze Strecke. Er nimmt auch schon mal einen Bus oder die Bahn oder fährt in einem Auto mit.) Doch angekommen in Moskau kennt er genügend Leute, die ihn in Empfang nehmen, wo er sich (wie man so schön sagt) wieder zum Menschen machen kann, einen Anzug kaufen und sich mit der Limousine in der Stadt herum chauffieren lassen. In Moskau wird er auch wieder zum gewöhnlichen Touristen der gebildeteren Sorte, indem er sich zum ehemaligen Wohnhaus von Boris Pasternak fahren lässt und andächtig die Fotografie betrachtet, die von Pasternak geschossen wurde in dem Moment als er vom Erhalt des Literaturnobelpreises erfuhr.

Im Übrigen nahm Büscher so ziemlich genau den Weg, den Hitlers Armeen nahmen, als diese Moskau erobern wollten – was auch der Weg war, auf dem sie sich mit riesigen Verlusten an Menschen und Material zurückziehen mussten. Während die auch aufscheinenden Referenzen an Napoléons Versuch, Moskau zu erobern, rein bildungsbürgerlichen Hintergrund haben, ist es für Büscher mit dem Marsch der deutschen Armeen im Zweiten Weltkrieg etwas anderes. Sein Großvater ist als blutjunger Mann in diesem Angriff geblieben, und er scheint in Büschers Gedanken immer wieder auf, auch wenn der Autor zugeben muss, ihn gar nicht persönlich gekannt zu haben. Auch sonst sind die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg im Buch sehr präsent. Wann immer ihm Einheimische Geschichten erzählen, drehen sich diese um den Krieg, die Verfolgung von Juden durch die Nazis, von Polen durch die Sowjetrussen, von Russen durch Russen.

Ich mag Reiseerzählungen, und was ich gerade geschildert hat, hätte Anlagen zu einem interessanten Buch gehabt. Leider ist (oder war) Büscher von Beruf Feuilletonautor. Und das merkt man sofort. Merkt man am Stil. Es ist dieser leicht süffisante, distanziert von oben herab geführte Pseudodialog mit dem Publikum, an das sich jeder Feuilletonist so rasch gewöhnt. Ein Sprachstil, der als gut gilt, weil er eingänglich und leicht verständlich ist – und der im Grunde genommen nur seicht ist. Es gibt im Text wohl seltene Momente ehrlich klingender Introspektion, aber meistens mokiert sich Büscher über die Einheimischen, ihre Sitten und Gebräuche. Selbst ‚9/11‘, das er in Belarus in einem Fernseher im Restaurant mitkriegt, berührt ihn offenbar nur peripher.

Eine goldene Chance, die zum Teil in sentimentaler Anhänglichkeit an den Großvater vertan wurde, zum andern Teil in überheblicher Nonchalance. Kann man lesen. Muss man nicht.


Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß [was, wie gesagt, in dieser suggerierten Ausschließlichkeit nicht stimmt, der Autor hat bei weitem nicht die ganze Distanz zu Fuß hinter sich gebracht]. Reinbek: Rowohlt, 2003. Gelesen in der Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg. Frankfurt/M, Wien, Zürich, 2021.

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