Im zweiten Band von Phantastik und Futurologie versucht sich Lem zunächst an einer Art Typologie der Science Fiction, um schließlich deren futurologische Fähigkeiten zu bestimmen – will sagen: deren Potenzial, Zukunft vorher zu sagen oder gar zu gestalten. Er kommt dabei, so viel kann ich gleich vorweg nehmen, zu einem ziemlich vernichtenden Resultat.
Die Typologie der Science Fiction kennt als erstes Die Katastrophe, dann Roboter und Menschen, Kosmos und Phantastik, Die Metaphysik der Science Fiction und die Futurologie des Glaubens, spricht dann über Erotik und Sex, um mit Mensch und Übermensch zu enden. Eine Art Anhang gilt der »Neuen Welle«, worauf dann der Schluss folgt – der Versuch der futurologischen Einordnung.
Im ersten Kapitel behandelt Lem jene (meist US-amerikanischen oder englischen) Werke, die eindeutig Geburten des Kalten Krieges sind, der Angst vor alles Leben auf der Erde vernichtenden Atomschlägen der Supermächte oder auch nur der Invasion durch die „Commies“. Es sind das meist Werke, die wir heute als Postapokalypsen bezeichnen: die Schilderung eines Lebens bzw. Überlebens von ein paar Wenigen in einer zerstörten Welt. Nicht zu Unrecht bringt Lem schon in diesem Kapitel einen seiner beiden Hauptkritikpunkte in Phantastik und Futurologie II vor: das seltsame Geschichtsverständnis bzw. -denken, das sich in solchen Romanen meist offenbart. Diese Romane vermitteln den Eindruck, dass sich nach einer solchen Katastrophe die Geschichte immer noch einmal wiederholen muss, dass ein Kampf aller gegen alle, ein Jäger- und Sammlerdasein, feudale und absolutistische Strukturen etc. sich noch einmal in der praktisch gleichen Reihenfolge zu wiederholen hätten, wenn die Welt bzw. die Menschheit noch einmal bei Null anfangen müsste. Obwohl kein eigentlicher Endzeit-Roman fällt bei Lem Olaf Stapledons Roman Last and First Men ebenfalls unter diese Kritik – wie er überhaupt in Teil II von Phantastik und Futurologie den englischen Autor bedeutend weniger positiv beurteilt wie noch in Teil I.
Im zweiten Kapitel über Roboter spielt dann bei Lem seltsamerweise der Marquis de Sade eine wichtige Rolle, dessen Einstellung (bzw. die Einstellung seiner Figuren) er in der Einstellung der Menschen gegenüber den Robotern er wiederholt sieht. Der gesellschaftlich wie ökonomisch Überlegene, der die reine Jungfrau Roboter wie eine ihm gehörende Sache auseinander nimmt und daran sein Vergnügen findet. Der andere Aspekt ist der dem Menschen in vieler oder jeder Hinsicht überlegene Roboter – wo dann Lem (ebenfalls: seltsamerweise) auf eine gewissen Mr. Spock in einer US-amerikanischen Science-Fiction-Serie verweist – ein Roboter, der mit dieser Überlegenheit der Menschen Angst einflößt. (Daran ändern auch die drei Gesetze der Robitik von Isaac Asimov nichts, die nach Lems Ansicht keinen freien Willen beim Roboter ermöglichen würden, und somit den Rest seiner Persönlichkeit annulliert.)
Bereits in Kosmos und Phantastik spricht Lem dann davon, wie die Kultur des Menschen sein Bild vom Kosmos, von anderen Lebensformen prägt, und bereits hier stellt er die Verbindung her zu dem, was er im vierten Kapitel Metaphysik nennt, und was bei ihm aber nicht anderes bedeutet als das Christentum, genauer der katholische Glauben, den Lem in vielen Romanen wieder findet. Hier kann ich ihm nicht ganz folgen, aber seine diesbezügliche Empfindlichkeit mag auch daher rühren, dass selbst unter kommunistischer Herrschaft der Katholizismus in Polen immer eine starke Kraft darstellte.
Danach untersucht Lem den Grund, warum Erotik und Sex in der Science Fiction so rar sind, bzw., wenn sie denn vorkommen meist gleich in Pornografie ausarten. Außer, dass er es komisch und unnötig findet, wenn Autoren ihren Aliens bis zu fünf Geschlechter zuteilen, die solche Spezies zur Fortpflanzung brauchen, erfährt man aber wenig Neues. Ursula K. Le Guins Geschlechterwechsel der Menschen in The Left Hand of Darkness findet er überkonstruiert. Nun ja: Zu seiner Zeit und an seinem Ort war wohl die (sexuell) emanzipatorische Note des Romans nicht zugänglich.
Beim Thema Übermensch kommt Lem auf die Möglichkeit zu sprechen, dass in naher oder ferner Zukunft es der Fall sein könnte, dass die Menschen ihr Aussehen (chirurgisch oder genetisch, so genau wird Lem nicht) modifizieren könnten oder gesundheitlichen Risiken gleich aus dem Weg gehen, indem anfällige Organe (wie zum Beispiel das Herz) durch künstliche ersetzt würden. Als Schlussresultat könnte da ein Mensch stehen, der nur noch aus künstlichen Organen bestände und vielleicht auch nicht mehr wie ein heutiger Mensch aussähe. Allerdings ist auch hier sein Urteil über das, was die aktuelle Science Fiction aus dem Thema gemacht hat, vernichtend.
Diese kurze Zusammenfassung hat von zwei großen Kritikpunkten, die Lem immer wieder anbringt an der Science Fiction, erst einen erwähnt: das bei allen Autoren (Frauen werden, außer Le Guin, keine erwähnt) offenbar ein an Oswald Spengler geschulte zyklische Geschichtsverständnis. Hier ist natürlich neben und vor Stapledon zu nennen A. E. van Vogts Space Beagle-Zyklus. Lem selber geht allerdings seinerseits explizit von einer Entwicklung der Gesellschaft über magisches Denken, dann religiöses hin zum höchstem Punkt des wissenschaftlichen Denkens aus – hierin, wissentlich oder nicht (der Name wird, wenn ich das recht sehe, nie erwähnt), James George Frazers in The Golden Bough geäußerten These folgend – einer These, die Anthropologie und Soziologie der 1960er im Westen bereits verworfen hatten.
Der zweite große Kritikpunkt Lems betrifft den Umstand, dass bei allen möglichen und unmöglichen technischen Veränderungen, die geschildert werden, nie darauf eingegangen wird, nie davon gesprochen wird, welche gesellschaftlichen Voraussetzung gegeben sein müssten für eine solche Veränderung, bzw. welche gesellschaftlichen Konsequenzen sie haben könnte. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass er das (teilweise) geschrieben haben könnte, um bei der offiziell in Polen herrschenden marxistisch-leninistischen Doktrin nicht anzuecken, müssen wir ihm hier zustimmen. Die meisten Taten der gängigen Science Fiction der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren immer Taten Einzelner (Männer – aber das ist Lems Kritikpunkt nicht). Lem nimmt das Beispiel der Mondfahrten bei Jules Verne und H. G. Wells. Wells‘ Einfall, wie seine Protagonisten auf den Mond kommen, ist zwar um einiges phantastischer und unmöglicher als der von Jules Verne – aber Lem hält dem Engländer zu Gute, dass bei ihm eine Art Kooperation verschiedener Menschen stattfindet, während die Protagonisten des Franzosen auf eigene Faust handelnde Einzelgänger sind. Das Beispiel ist banal, aber die Kritik dahinter wäre zu beherzigen.
So darf es einen nicht wundern, wenn Lem zum Schluss kommt, dass Science Fiction keine große Literatur darstelle – weder stilistisch noch inhaltlich. Dieses Urteil muss man aus heutiger Sicht etwas relativieren. Zum einen nimmt er als Maßstab, was „große Literatur“ ist, offenbar nur Franz Kafka und Thomas Mann. Doch gerade diese gehören selbst in der „großen Literatur“ zu den vielleicht Hundert der ganz, ganz Großen – über alle Epochen und Sprachen gesehen. Andererseits urteilt Lem (wie jeder Kritiker) immer aus einem Fundus der von ihm gelesenen Literatur. Auch wenn ich zugeben muss, dass er so einiges gelesen hat, was ich nicht gelesen habe (und nie lesen werde), ist es halt doch so, dass er zu jener Zeit (Phantastik und Futurologie II erschien auf Polnisch 1964) in seiner Heimat nur beschränkten Zugang auf die westliche Science Fiction hatte. Oft genug scheint er seine kritisierten Autoren über Anthologien kennen gelernt zu haben – in der Hoffnung oder im Glauben, dass da die besten der Besten versammelt wären.
Zwei durchaus gültige Kritikpunkte also, die – so weit ich die Science Fiction des 21. Jahrhunderts einschätzen kann (ich lese ja kaum welche), zumindest in den Trivialformen, auf die sich Lem in seinem Urteil ja letztendlich stützt – immer noch zu beherzigen wären. Vieles in diesem Text ist aber heute nur noch für Literaturhistoriker:innen relevant.
Stanisław Lem: Phantastik und Futurologie. 2. Teil. Übersetzt von Edda Werfel. Frankfurt/M: Insel, 1980.