Vor etwas mehr als fünf Jahren hatte ich einmal den Kriminalroman Der Fall Maria Okeke von Eva Ashinze hier vorgestellt. Es war Ashinzes Erstling, den ich da in die Hände bekommen hatte. Ich war damals nicht sonderlich angetan von dem Buch. Zu ungelenk erscheinen mir Story wie Figuren, und die Autorin vermochte es nicht, eine nennenswerte Atmosphäre zu erzeugen. Die Lösung war nur möglich, weil Ashinze offenbar nicht wusste, wie und wo die heutige Informatik Daten sichert. Last but not least zeigte Ashinze eine nicht zu übersehende Liebe zu den kaputten Ermittler-Typen, wie wir sie seit längerem als Seuche aus Schweden importiert haben. Als sie später an einer Lesung auch aus ihrem nächsten Buch (ebenfalls einem Winterthur-Krimi, mit derselben Ermittlerin) vorlas, konnte ich keine Veränderung zum ersten Roman feststellen, und ich habe die Autorin für mich bei Seite gelegt. Äußeren Umständen hat sie es zu verdanken, dass ich doch noch ihren neuesten Roman gekauft und gelesen habe (abermals einen Krimi, abermals mit Handlungsort Winterthur, diesmal aber nicht in der Gegenwart spielend, sondern im Jahr 1937).
Und was soll ich sagen? Ich bin tatsächlich positiv überrascht von diesem Roman. Ashinze hat sich nicht nur mit einem Historiker abgesichert, was die Faktentreue der geschichtlichen Umstände betrifft, sie hat nicht nur selber in Archiven recherchiert, sie hat auch – wie sie selber in einem kleinen Nachwort (es nennt sich Dank) angibt, Literatur aus der Zeit gelesen – allen voran die Krimis von Friedrich Glauser. Und das hat vor allem der Atmosphäre des Romans gut getan. Natürlich und zum Glück hat sie jetzt nicht zu einer Friederike Glauser mutiert. Aber sprachlich und vor allem in der Darstellung der Polizeiarbeit erinnert sie sehr an ihn. Nur ist natürlich, was für Glauser Gegenwart war, für sie Vergangenheit. Wo Glauser noch Rätsel und offene Fragen bzw. Probleme sah oder fühlte, hat Ashinze mit der rückwärts gewandten Prophetie der Historikerin Antworten oder sieht zumindest Zusammenhänge. Wo Glausers Wachtmeister Studer im Fieber oder im Haschisch-Rausch seine Fälle löst, trinken die beiden Ermittler der Zürcher Kantonspolizei höchstens einmal ein Bierchen oder einen Schnaps zu viel – dies allerdings während der Arbeit. Und wo für die Protagonisten des Romans die Zukunft Winterthurs und der Schweiz im Jahr 1937 völlig ungewiss sein musste, wissen wir heute, dass die Front-Bewegung (unter diesem Namen wurden in der Schweiz die faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen zusammengefasst) schon bald – vor allem auf Grund des immer mehr zunehmenden Machtanspruchs von Adolf Hitler – an Bedeutung verlieren sollte.
1937 aber war die Zeit, als man nicht sicher sein konnte, ob die Schweiz nicht den gleichen Weg gehen würde wie die Weimarer Republik. Auf der Seite der Linken waren es vor allem Kommunisten, die sich radikalisierten. (Die Sozialdemokraten waren zum größten Teil bereits in den demokratischen Prozess eingebunden, vor allem in den Städten in Parlament wie in der Regierung vertreten.) Rechts die Front-Bewegung, unter denen sowohl Faschisten waren, die einfach ’nur‘ für eine faschistisch geordnete Schweiz eintraten, aber auch in der Wolle gefärbte Nazis, die tatsächlich einen Anschluss ans Dritte Reich herbeiführen wollten. Linke und Rechte trafen – wie in der Weimarer Republik Anfang der 1930er – immer mal wieder in blutigen Schlägereien aufeinander.
Zu so einer Schlägereie kam es auch am Sonntag, den 3. Mai 1937, als nach einem Fußball-Länderspiel in Zürich nationalsozialistische deutsche Fans, verstärkt durch Schweizer Fröntler, auf dem Heimweg durch Winterthur kamen und im Arbeiterquartier Töss auf die kommunistischen und sozialistischen Verbände trafen. Es gab die üblichen Schlägereien, aber am nächsten Morgen wurde in einem nahen Park ein Toter gefunden, dem man ganz offensichtlich den Schädel eingeschlagen hatte. Es handelte sich um einen Deutschen, der in Winterthur wohnhaft gewesen war – innen- und außenpolitische, lokale und internationale Komplikationen für die Ermittlungsarbeit waren vorprogrammiert.
Eva Ashinze gelingt es diesmal überzeugend, Täter, Opfer und Polizisten lebendig darzustellen als Menschen mit ihren Macken, mit ihren guten und ihren schlechten Seiten. Vielleicht übertreibt sie es ein bisschen, wenn sie außer den politischen auch noch andere Fragen in den Plot packt: die der eugenischen Maßnahmen, die sogenannt Blödsinnige ungefragt sterilisierte; die der Frauen, die bereits gewonnenes emanzipatorisches Land in der Wirtschaftskrise wieder aufgeben mussten; die des Arbeiterelends, als ihre wirtschaftliche Situation viele Arbeiter zum Trinken verführte (was ihrer wirtschaftlichen Situation ja nun auch nicht aufhalf) etc. Aber die Handlung ist spannend, in wenigen Tagen abgewickelt und in noch kürzerer Zeit verschlungen. Durchaus empfehlenswerte Unterhaltungsliteratur.
Eva Ashinze: Winterthur 1937. Kriminalroman. Mit historischen Erläuterungen von Miguel Garcia. Schwellbrunn: orte Verlag, 2020.