Hervorgegangen sind die Weltgeschichtlichen Betrachtungen aus einem Kolleg, das Jacob Burckhardt unter dem Titel Über das Studium der Geschichte zwischen 1868 und 1872 drei Mal abgehalten hatte. Der Text war von ihm nie zur Veröffentlichung gedacht, und er hatte noch auf dem Sterbebett seinem Neffen und Nachlassverwalter Jacob Oeri den Auftrag gegeben, die Vorlesungsnotizen zu vernichten. Unter dem heute bekannten neuen Titel erschienen sie dennoch im Jahre 1905 und wurden, neben der Kultur der Renaissance, zu Burckhardts bekanntester und einflussreichster Schrift.
Sie heute zu lesen, ist allerdings ein etwas verstörendes Unterfangen. Die Sprache ist hymnisch und erhoben, der Inhalt aber in einem an Schopenhauer geschulten Pessimismus gehalten. Nicht nur dies: Für heutige Verhältnisse sind Burckhards Herablassung gegenüber Völkern ohne schriftliche Überlieferung, seine rassistischen und antisemitischen Auslassungen starker Tobak. Ja, sie waren dies schon zu seinen Lebzeiten – er wurde schon von seinen Zeitgenossen dem reaktionären Lager zugeordnet. (Sicher, er stand im 19. Jahrhundert mit seiner Verneinung einer Geschichte und Kultur von z.B. den Völkern Afrikas nicht alleine. Erinnern wir uns: Zu etwa der gleichen Zeit wurde dem deutschen Afrika-Forscher Heinrich Barth eine wissenschaftliche Karriere verwehrt, weil er sich auf seinen Reisen persönlich davon überzeugt hatte, dass auch die afrikanischen Völker eine Geschichte hätten, was vom damals führenden deutschen Historiker Ranke vehement und a priori bestritten wurde, der Barth deshalb um seine Karriere brachte.) Und Ranke ist wohl nicht von ungefähr der einzige Fachhistoriker, den Burckhardt immer wieder zitiert …
Auch späteren Zusätze, in denen Burckhardt sich an einer Analyse des Deutsch-Französischen Kriegs und seiner Konsequenzen versuchte, muten eher seltsam an. Der Historiker als rückwärts gewandter Prophet sollte nun einmal nicht versuchen, sich als vorwärts gewandtes Orakel zu positionieren. Eines ist Burckhardt bei seiner Analyse gutzuschreiben, nämlich, dass er die Wichtigkeit dieses Krieges offenbar begriff – eines Kriegs, der Deutschland zu einer Nation einte, was so ziemlich das Gegenteil war von dem, was Napoléon III. beabsichtigt hatte, der nämlich die süddeutschen Staaten von Preußen abspalten wollte. Er sah, dass dies weltgeschichtliche Konsequenzen haben musste. Nur sollten die Konsequenzen dieser Vereinigung erst im 20. Jahrhundert offenbar werden – und dies in einer im 19. noch absolut unvorhersehbaren Art und Weise.
Zwei Dinge aber sind Burckhardt tatsächlich hoch anzurechnen: Zum einen sein expliziter Verzicht darauf, der Geschichte ein Ziel oder ein Ende zuzuweisen. Hier wendet er sich explizit gegen Hegel. Er glaubt zwar offensichtlich an eine Art Höherentwicklung des menschlichen Geists (nur so kann ich mir erklären, warum er sein eigenes, das 19. Jahrhundert, immer wieder über den grünen Klee lobt – allerdings war wohl kaum ein Intellektueller seiner Zeit derart in ebendieser verhaftet wie er), aber nicht an ein Ende dieser Entwicklung, oder daran, dass diese immer positiv verlaufen würde. Daran hindert ihn dann doch sein pessimistisches Weltbild.
Das andere ist Burckhards explizite Weigerung, eine Geschichte zu schreiben, die sich an irgendwelchen menschlichen Gestalten orientierte. Er postuliert vielmehr drei Instanzen (wie er sie nennt), die in gegenseitiger Abhängigkeit und Beeinflussung die Geschichte formen: den Staat, die Religion und die Kultur. Deren Definitionen sind zwar schwammig, bewusst schwammig, wie Burckhardt sagt, aber es sind für ihn auf keinen Fall irgendwelche großen Männer, die Geschichte schreiben. Er widmet diesem Thema sogar ein eigenes Kapitel, um seine Ablehung großer Männer zu erläutern.
Alles in allem also ein merkwürdiges, hybrides Gebilde aus modernen An- bzw. Einsichten und reaktionärem Stolz auf seine Zeit, seiner Rasse, sein Bildungsbürgertum. Ich kann es nicht empfehlen, aber auch nicht ganz verwerfen.
1 Reply to “Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachungen”