Kann man, habe ich mich bei der Vorstellung des ersten Bands dieses Glossariums gefragt, kann man dieses Wörterbuch also wirklich wie ein Lesebuch lesen – so, wie es der Herausgeber Heinrich Löffler auf dem Werbetext des hinteren Buchdeckels suggeriert? Meine vorläufige Antwort war „Jein“; ich versprach aber, mit Band 2 den Versuch zu machen. Nun, meine Antwort ist immer noch „Jein“. Oder, wie man im Juristendeutsch sagt: „Es kommt darauf an.“ Darauf nämlich, wie man ein Lesebuch liest. Ein Wörterbuch wie einen Roman von vorne nach hinten, Artikel für Artikel lesen, geht sicher nicht. Das heißt, es geht natürlich schon, ist aber nicht sehr interessant – zu wenig Handlung und Zusammenhang, aber mehr Protagonisten als in jedem russischen Roman. Andererseits geht selektives Lesen, mal diesen, mal jenen Artikel genauer anschauen, sich von den Verweisen auch mal weiterleiten lassen, bei Sprengs Glossarium recht gut. Viele seiner Artikel sind tatsächlich schon fast anekdotenhaft gestaltet und / oder erzählend.
Über das Zustandekommen der vorliegenden Ausgabe, ebenso wie über Sinn und Zweck der ursprünglichen Sammlung des Johann Jakob Spreng habe ich schon bei der Vorstellung des ersten Bands referiert. Diesbezüglich möchte ich einfach darauf verweisen.
Allenfalls ist mir aufgefallen, dass im Gegensatz zum Buchstaben A hier von B bis D kaum Kirchengeschichtliches abgehandelt wurde, dafür fand ich immer wieder Ausdrücke aus der Zergliederungskunst, der Anatomie. Vielleicht ist das auch nur einer Verschiebung meiner Aufmerksamkeit geschuldet, vielleicht aber hat Spreng hier nun tatsächlich weniger kirchengeschichtliche und mehr anatomische Begriffe definiert. Ich habe keine Statistik geführt. (Dafür habe ich nun endlich begriffen, weshalb wir als kleine Jungs immer von „Mäusen“ sprachen, wenn wir uns gegenseitig an die Oberarme griffen, um den Umfang des Bizeps zu kontrollieren: Bei Spreng wird das lateinische Wort „musculum“ prinzipiell mit Mäuschen, selten auch Maus übersetzt. Ich müsste nun nachforschen, ob er diese Übersetzung erfunden hat, oder ob sie damals gang und gäbe war.)
im Übrigen möchte ich heute einfach ein paar Beispiele aus dem zweiten Band vorstellen, die mich in irgendeiner Art und Weise interessiert oder fasziniert haben.
Da ist ein Ausdruck, der mich wieder daran erinnert hat, dass mir damals, als die Jugend das Wort „geil“ als Provokation in ihren Alltag übernommen hat, diese vermeintliche Provokation nur ein müdes Lächeln entlocken konnte, kannte ich doch eine ähnlich Verwendung des Worts, wie es die Jungen nun wieder einführten, schon aus dem Mittelalter, wo es schon „geile Wiesen“ gab, die einfach nur „saftig“ waren. Bei Spreng nun finden wir folgenden Eintrag:
*begeilen einen Acker, d. i. solchen bessern, düngen, geil und fruchtbar machen. s. befrüchtigen
(Nebenbei gesagt: Ich führe zwar die fetten und kursiven Auszeichnungen des Originals nach, verzichte jedoch auf die der Zeit geschuldeten Unterscheidungen von gebrochener Schriftart und Antiqua, bzw. im Neudruck von Serifen-Schrift und serifenloser Schrift.)
Ein anderer Eintrag zeigt den rechthaberischen Sprachpuristen Spreng im schönsten Licht. Anders als beim Verb atmen vom ersten Band, ist ihm hier der Sprachgebrauch aber nicht gefolgt:
*Basßsänger oder *Basßstimer ist besser gesagt als Bassist; barophonus. Das Altdeut. basß nidrig, bedarf keiner fremden Endung.
Dann erscheint plötzlich als eigener Eintrag gar der berühmte Satzteil aus der ersten Strophe des Reichstons des Walter von der Vogelweide – allerdings ohne dass es ihm zugeschrieben wird:
Bein mit Beine mit übergeschlagenen Beinen, ein Bein über das andere. [Es folgt die ersten Stophe des Reichstons im Vollzitat, dann als Quellenangabe nur:] (Minnes. I. S. 104.a.)
Schliesslich musste ich feststellen, dass es gewisse Krankheiten schon lange vor Sigmund Freud gab:
behrwund nennen die Bauern auf der Landschaft von Basel Jemand, wenn es auch ein Mannsbild wäre, der von plötzlichen Ohnmachten überfallen wird, als ob er von der Behrmutter seine liebe Not hätte. Beÿ den Franzosen bedeutet es einen starken Hipocondre.
Die Behrmutter nennen wir heute „Gebärmutter“ – die Medizin verwendete dann den griechischen Begriff dafür und schuf das Krankheitsbild der Hysterie. Im Gegensatz zu Freud & Co. war offenbar zu Sprengs Zeit der Begriff behrwund für Männlein und Weiblein gültig – wir machen im Lauf der Jahrhunderte nicht nur Fortschritte.
In die Gattung der Seltsamkeit gehören folgende zwei Begriffe, die ich gefunden habe:
*Bottelschraube; Tirebouchon.
Die „Flaschenschraube“ – also der Korkenzieher. Könnte man wieder einführen, wie ich finde.
Dürrzweig, Unmann, Verschnidtener; spado. (Vocab. Aa. VIII. 7.)
Damals waren solche Begriffe sicher noch mehr im Gebrauch als heute, aber das Bild dahinter ist doch interessant.
Und dann war da noch dies:
Cokainea terra, Schlauraffenland, das Land der Faulheit und Wollüste. Franz. Pais de Cocaigne. Ehedessen nennten die Bauern in Engelland Diejenigen, welche sich von dem Pfluge zu dem wollüstigen und müssigen Stadtleben begaben, Cokaignes, oder, wie man nunmehr sagt, Cockneys, d. i. Bürger des Schlauraffenlandes, Cokanineae terrae, oder Schelmen, Coquins, wie es Hickes in s. AS. Sprachl. Blts. 231. erkläret. Der Name dieses Saus- Braus- und Schmauslandes kömmt von dem brittischen Koginiäth, coquinaria.
Ein Schelm, wer Übles dabei schnupft …
Heinrich Löffler (Hg.): Johann Jakob Spreng: Allgemeines deutsches Glossarium. Ein historisch-etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Band 2. B – D. In Zusammenarbeit mit Suzanne de Roche, unter Mitarbeit von Willy Elmer, Mathilde Gyger, Christof Meissburger und Michael Saave (Transkription), sowie Gabriel Schaffter (Recherche, Koordination). In Verbindung mit der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel unter der Leitung von Ueli Dill. Basel: Schwabe, 2022.
Sehr geehrter Herr Kollege,
Herr Löffler hat mich freundlicherweise auf Ihren Blog aufmerksam gemacht. Die Beiträge zu J.J. Spreng habe ich jetzt alle gelesen. Zu Cokainea terra (Bd. 2) habe ich S.s Lemma wie folgt kommentiert (in einem noch nicht gedruckten Kommentar zu den Celtica im Glossarium):
„Lustig, aber falsch: coga(i)gne zweimal < germ. Kuchen (EWF), dies ohne gesicherte Ety. (Kluge). Nach Schuchart stammt jedoch coga(i)gne aus dem Lat. ‒ Ky. coginiaeth < lat. coquinaria heißt ‚Kochen, Kochkunst‘."
Und "Grundbirnen" (Bd. 3) finde ich nicht "seltsam", wie Sie schreiben. In den Mundarten am unteren Main sagt man noch heute "Grumbern".
Daß Topinambur-Knöllchen jemals "Erdäpfel" genannt wurden, hab ich noch nie gehört. Erdäpfel ist das in Österreich m.W. übliche Wort für Kartoffel.
Mit freundlichen Grüßen,
Stefan Zimmer (em. Prof. f. Vgl. Idg. Sprachwiss. u. Keltologie, Univ. Bonn)
Hallo Herr Zimmer!
Besten Dank für Ihre nette Reaktion.
Ich hätte ja „Cokaniea“ wirklich gern von jenem weißen Pulver abgeleitet gesehen, aber was nicht ist …
Die „Grundbirne“ (da haben Sie wahrscheinlich die Zeile überlesen, die ich eingeschoben habe) finde ich auch nicht „seltsam“, das betrifft nur die „Einschattigen“. Und nein: „Erdäpfel“ für Topinambur habe ich auch noch nie gehört. Mutatis mutandis ist das auch in der Schweiz das Wort für die Kartoffel.
Freundliche Grüße
P. H.
Das mit dem Reichston ist interessant. Es heißt ja „und dahte bein mit beine“ – Spreng hat also „dahte“ offenbar als „dachte nach, überlegte“ aufgefasst und folglich „bein mit beine“ für einen eigenständigen Ausdruck für „mit übereinandergeschlagenen Beinen“ gehalten. Nun habe ich aber gelernt, dass dieses „dahte“ „deckte“ bedeutet (das Verb wurde also im Neuhochdeutschen regularisiert), die Stelle also einfach „bedeckte ein Bein mit dem anderen“ = „hatte die Beine übereinandergeschlagen“ meint.