Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk

Es gibt Philosoph:innen, die Philosophiegeschichte geschrieben haben, weil sie eine neue Lösung zu einem alten Problem gefunden haben, ein so genanntes ‚System‘. Die meisten allerdings sind Kärrner im Steinbruch der Philosophie, Galeerensklaven, die im Schweiße ihres Angesichts malochen, um ihre Subsistenz im akademischen Betrieb fristen zu können. Viele beschäftigen sich gar nicht mehr mit den eigentlichen philosophischen Problemstellungen, sondern beschränken sich darauf, bekanntere Vorgänger:innen zu kommentieren und zu kritisieren – mehr Philologen denn Philosophen also. Nur eine Handvoll dieser Galeerensklaven hat eine Bekanntheit erworben, die über den kurzfristigen und flüchtigen Ruhm unter ein paar gleichgesinnten Kolleg:innen hinaus geht. Meist hängt diese Bekanntheit dann an einem einzigen Buch. Wir haben dies bei Hermann Diels gesehen, mit seiner Ausgabe und Übersetzung der Fragmente der Vorsokratiker. Ein ähnlicher Fall nun ist Karl Vorländer. Schüler von Hermann Cohen (also der neukantianischen Schule von Marburg zuzuordnen) hat er sich sein Leben lang praktisch nur mit Immanuel Kant auseinandergesetzt. Er hat in den 1910er Jahren verschiedene Schriften Kants, vor allem die kleineren, bei Felix Meiner herausgegeben und kommentiert. (Einige davon sind als Print-on-Demand sogar noch bei diesem Verlag erhältlich, andere werden von andern Anbietern noch offeriert.) Dass man ihn heute noch kennt, verdankt er aber vor allem dem vorliegenden Werk, der ersten umfassenden Biografie von Immanuel Kant, die erschienen ist. (Seine Geschichte der Philosophie wurde zwar noch so spät wie 1980 bei Rowohlt als Taschenbuch aufgelegt, ist jetzt aber nur noch in (gekürzten?) Ausgaben bei diversen auf Reprints von Klassikern spezialisierten Print-on-Demand-Verlagen neu erhältlich.)

Vorländers Verdienst einer ersten, umfassenden Kant-Biografie soll keineswegs dadurch geschmälert werden, dass sie meiner Meinung nach heute nur noch unter großem Vorbehalt lesbar ist. (Sie ist denn auch seit 1997 bei Meiner nicht mehr aufgelegt worden; vor mir liegt ein Reprint aus dem Jahre 2003, zwei Bände in einem, erschienen bei Fourier – seither haben sich offenbar nicht einmal Print-on-Demand-Verlage mehr an das Buch getraut. Bei einem Umfang von rund 900 Seiten auch kein Wunder.)

Es ist klar, dass man, um eine Biografie von jemand zu schreiben, diesen oder diese Jemand entweder sehr mögen muss – oder das Gegenteil. Vorländer mag Kant, er liebt ihn, er verehrt ihn. Und das ist das Problem dieser Biografie. Nicht nur, dass er einige Male von unserem Held spricht, wenn er Kant meint. Er nimmt auch sonst sehr eindeutig Partei. So nimmt er ihn in Schutz, wo immer eine der (nicht-philosophischen) Aussagen oder Taten Kants auch nur im Geringsten fragwürdig sein könnte. So, wenn der Königsberger, nachdem er ein harsches Schreiben von Friedrich Wilhelm II. erhalten hat wegen seiner religionsphilosophischen Schriften, die dem bigotten König persönlich aufstießen, mit seinem schriftlichen Versprechen, seine Majestät nicht mehr mit solchen Schriften zu beleidigen, mehr getan, als der preußische König eigentlich von ihm verlangt hatte. Und wenn Kant dann noch – und dazu öffentlich! – hinzufügte, dass er dies wörtlich meine, also sich nur zu Lebzeiten Friedrich Wilhelm II. an sein Versprechen gebunden fühle (was er denn auch prompt einhielt und unter Friedrich Wilhelm III. wieder veröffentlichte wie zuvor), dann wirkt Kant hier schon sehr wie ein sophistischer Kleingeist. Was Vorländer natürlich abstreitet, ohne heutige Leser:innen so ganz überzeugen zu können.

Dass sich die eindeutige und letzten Endes eben nicht objektive, sondern stark subjektive Stellungnahme pro Kant auch in anderem und Wichtigerem zeigt, stellt dann aber erst das Problem dieser Biografie dar. Da ist zum Beispiel Herder, den er, nach dessen Bruch mit Kant und dessen transzendentalem Idealismus, nur noch verteufelt. Dabei bleibt er biografisch aber seltsam vage. Eines Tages ist Herder plötzlich in Königsberg; anders als bei vielen anderen (minderen Figuren aus heutiger Sicht) erfahren wir nichts von seiner Vorgeschichte. Und dann ist er auch plötzlich wieder weg und hat plötzlich Streit mit Kant. Auch da wirkt Herders Handeln völlig unmotiviert (was es zum Teil wohl auch war, was aber besser herausgestellt hätte werden müssen). Ähnlich ist es mit Hamann, der aber – da er nach seinem englischen Abenteuer für den Rest seines Lebens in Königsberg blieb und eine Art On-Off-Beziehung mit Kant führte – bis zu seinem (Hamanns) Tod nicht ganz aus dem Blickfeld des Biografen verschwindet.

Auch der Zeit geschuldet und heute kaum mehr zu goutieren, ist der Umstand, dass Vorländer immer wieder versucht, Kant in Verbindung zu bringen mit den anderen deutschen Klassikern in Weimar. Das geschieht bei Schiller und Wieland relativ zwanglos und korrekt. Goethe aber … Einerseits kommt Vorländer nicht darum herum, implizit zugeben zu müssen, dass das Verhältnis zwischen Goethe und Kant einseitig auf der Seite des Weimarers existierte, der – zunächst wohl unter dem Einfluss Schillers – angefangen hatte, einige der bekannten Schriften Kants zu studieren. So weit das im Kapitel zur zeitgenössischen Rezeption Kants geschildert wird, gehört es ja auch zum Thema. Wenn aber dann Vorländer versucht, eine Beziehung auch Kants zu Goethe zu konstruieren, wird es unfreiwillig komisch. Es könnte ja gewesen sein, argumentiert Vorländer, dass der notorische Vielleser, der der junge Kant war, auch Goethes Werther und eventuell gar den Götz in die Finger bekommen hätte. Natürlich können wir Vorländer das Gegenteil nicht beweisen. Aber dass Kant, der mit Herder und J. M. R. Lenz zwei (ehemalige) Schüler im Dunstkreis Goethes vorweisen konnte, dass Kant also sein ganzes Leben lang, in keiner seiner Schriften, auch nur den Namen erwähnt hat, spricht nicht dafür, dass er überhaupt von Goethe wusste. (Womit er von seinem Standpunkt auch Recht hatte: Goethe war für die kritische Philosophie irrelevant; die Verwandtschaft, die der alten Goethe dann reklamieren sollte, hat er zu Lebzeiten nie wirklich publik gemacht. Auch war sie stark von der romantischen – Schelling’schen – Interpretation der Kritiken tingiert, was Kant nicht gefallen hätte.)

Last but not least interpretiert Vorländer Kants Schriften – hierin ein echter Vertreter der Marburger Schule – vor allem als wissenschaftstheoretische Schriften. Und, wo sich Kant politisch äußert (vor allem in seinen Mittagstischgesprächen) lobt er nicht nur dessen Fähigkeit, den Durchblick zu haben. (Was nebenbei auch eine stark persönlich gefärbte Interpretation Vorländers ist. Was Wasianski – Vorländer nimmt immer wieder Bezug auf die drei ersten Biografen Kants, Worowski, Jachmann und Wasianski, allerdings nur auf das, was in sein schön gefärbtes Kant-Bild passt – was Wasianski also zitiert, zeigt einen Mann, der ebenso der politischen Kannegießerei und Nebelstocherei verpflichtet ist, wie irgend ein Durchschnittsmensch am durchschnittlichen Stammtisch. Kant besaß keineswegs den völligen Durchblick, den ihm Vorländer andichtet. Ob Kant von der Französischen Revolution tatsächlich so begeistert war, wie ihn der – selber der politischen Linke angehörende – Biograf Vorländer schildert, kann ich mangels genauer Kenntnis der überlieferten privaten Dokumente Kants nicht beurteilen. Vorländer erklärt den Königsberger Philosophen ja nachgerade zum – wenn nicht Vater, so doch – Großvater des Sozialismus.

Fazit: Einige der Explikationen von Kants Schriften, die Vorländer liefert, können als erste Einführung in das betreffende Werk durchaus noch von Nutzen sein. Man muss sich allerdings der Parteilichkeit Vorländers – als Verehrer Kants einerseits, als Schüler Cohens andererseits – bewusst sein. Für Kants Biografie hat Vorländer viele vorher zerstreut vorliegende Fakten ge- und versammelt. Vom manchmal seltsamen Sprachduktus muss man abstrahieren können; man sollte generell bei dieser Schrift Kants Aufforderung beherzigen und bei der Lektüre seinen eigenen Verstand immer walten lassen.

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