Raimund Schulz, Jahrgang 1962, ist Professor für alte Geschichte an der Universität Bielefeld. Das vorliegende Sachbuch erschien 2016 und brachte dem Autor im Folgejahr (es sei gleich vorweg genommen: zu Recht) den Forschungspreis Geographie und Geschichte der Frithjof-Voss-Stiftung ein. Sein Untertitel (Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike) verbirgt, dass Schulz hier weit über das eigentliche Gebiet seines Fachs (eben die Antike) hinausgeht – zeitlich wie örtlich.
Zeitlich: Schulz setzt in der Bronzezeit ein und spannt dann den Bogen bis zu Kolumbus. Örtlich: Wohl ist der Schauplatz dieser Geschichte eurozentriert, ja sogar im Mittelmeer verankert, aber Schulz untersucht auch die Verbindungen der Mittelmeer-Völker mit ihren näheren und ferneren Nachbarn. Im Osten ist das natürlich zuerst einmal Mesopotamien, für die eigentliche Antike vor allem das Perserreich. Aber auch die Verhältnisse zu und in Indien und China werden ausführlich behandelt; Japan als das Ende der Welt zur beginnenden Neuzeit wird zumindest gestreift. Im Norden sind es die Kelten, später die Germanen und die britischen Inseln, denen das Interesse der Mittelmeer-Völker gilt. Der Süden spielt ebenfalls eine Rolle, auch wenn die Sahara lange Zeit für die Mittelmeer-Anrainer undurchdringbar blieb. Aber spätestens die Karthager suchten bereits nach einem Seeweg um Afrika herum, um so nach Indien zu gelangen. Mit der Fahrt gen Westen schließlich des Kolumbus endet das Buch.
Kolumbus ist nur der letzte in einer Reihe nicht immer namentlich bekannter Abenteurer. Diese Abenteurer sind Entdecker, Forscher, Kaufleute – alles oft in einer einzigen Person zusammengefasst. Die meisten Abenteuer im von ihm behandelten Zeitraum, so Schulz, sind ökonomisch motiviert. Die ersten Entdecker waren Kaufleute auf der Suche nach entweder neuen Absatzgebieten bzw. Lieferanten ihrer Ware (will sagen: jedweder in der Heimat verkäuflichen Dinge), oder auf der Suche nach anderen, kürzeren Lieferketten. Das Ausschalten des Zwischenhandels, der die Waren natürlich ungeheuer verteuerte, war immer wieder der Grund für weite Reisen.
Das Buch zusammen zu fassen, würde heißen, es noch einmal zu schreiben. Ich will mich deshalb auf einige Punkte beschränken, die ich als zentral in Schulz’ Werk empfunden habe – jene nämlich, bei denen der Autor mit nach wie vor gängigen Vorurteilen aufzuräumen versucht.
Gleich zu Beginn, also schon in der Bronzezeit, weist er die auch in der Archäologie lange Zeit existierende Ansicht zurück, Schifffahrt sei noch über die Antike hinaus immer nur Küstenschifffahrt gewesen. Dies sei ein Missverständnis, das vor allem zwei Gründe habe: Zum einen ist das Mittelmeer zu tief, als dass auf hoher See mit Erfolg nach auf dem Meeresgrund liegenden Wracks gesucht werden könne. Was man fand, lag in Küstennähe – daraus zu schließen, dass nur dort gesegelt wurde, ist aber falsch. Zum andern sind die antiken Berichte über Wasserfahrten in Küstennähe vorwiegend Berichte über militärische Expeditionen. Schiffe aber, die eine Landarmee begleiteten, mussten in deren Nähe bleiben, weil nur so die Befehle des Generals auch zu ihnen dringen konnten. Tatsächlich aber, so Schulz, war Küstenschifffahrt viel gefährlicher als Hochseeschifffahrt. Ein Sturm war auf hoher See zwar auch nicht lustig, aber die Gefahr, an irgendwelche Klippen geschmettert zu werden, war dort gering. Auch konnten sich schon die Seefahrer der Bronzezeit durchaus an den Sternen orientieren und selbst Segeln gegen den Wind war schon früh möglich.
Dann ist da das zwar schon lange widerlegte und zumindest bei Wissenschaftlern nicht mehr anzutreffende Vorurteil, das Mittelalter hätte die Erde für eine Scheibe gehalten. Spätestens seit Aristoteles war es eigentlich für die Wissenschaft eindeutig bewiesen, dass die Erde Kugelform haben müsse. Die Frage war nur noch, wie groß diese Kugel eigentlich sei. Und wenn Kolumbus mit seinen Plänen, nach Westen zu segeln, um auf diese Weise einen neuen Seeweg nach Indien zu finden, bei der portugiesischen Admiralität abblitzte, dann nicht, weil diese (wie Washington Irving kolportierte) der Meinung war, das sei unmöglich, weil die Erde ja flach sei, sondern weil Kolumbus in seinen Berechnungen der Lapsus unterlaufen war, arabische mit europäischen Meilen zu verwechseln und deshalb die Strecke von Europa westwärts nach Indien für viel kürzer zu halten, als sie es tatsächlich war. Die im Seewesen versierten Portugiesen sahen den Fehler sofort. Außerdem war das Interesse Portugals an der Westroute nach Indien unterdessen gering, weil das Land gerade daran war, eine Südroute mit der Umrundung Afrikas zu installieren. Die Spanier, ohne Südroute und mit geringerem nautischem Wissen, rüsteten Kolumbus dann aus. In diesem Abschnitt zu Kolumbus eliminiert Schulz nebenbei noch ein anderes, hartnäckigeres Vorurteil – jenes nämlich, der Kolumbus sei immer und ausschließlich der Meinung gewesen, zwischen Europa und Indien liege nur Wasser. Es gab aber hierzu verschiedene Theorien, und eine der damals gängigen war, dass neben der Oikumene (so nannten die alten Griechen und so nennt Schulz den in der Antike bekannten eurasischen Teil der Welt) noch drei weitere Erdteile existieren könnten, um die herum das Weltmeer fließe. Kolumbus, der auf der Höhe des nautischen Wissens seiner Zeit war, konnte also nicht ausschließen, auf einen bisher unbekannten Erdteil gestoßen zu sein – tat es auch nicht, wenn wir seine Schriften lesen.
Kleinere Vor- oder Fehlurteile korrigiert Schulz ebenfalls, meist im Vorbeigehen. So zum Beispiel die Tatsache, dass es die Seidenstraße nicht gab. Es existierte im Gegenteil ein Netz aus Handelsrouten zwischen China und Europa. Die antiken und die mittelalterlichen Händler waren schlauer als die Europäer des 21. Jahrhunderts, die sich darauf kaprizieren, ein Produkt nur von einem Hersteller zu beziehen und dieses nur über eine einzige Route zu importieren. Fällt der Hersteller aber aus oder bricht die Lieferkette zusammen, stehen wir plötzlich vor dem Problem, dass in Europa zu wenig Halbleiter für Computer ankommen oder kein Gas zum Heizen. Eine Diversifizierung von Herstellern wie von Zwischenhändlern – oder eben gar deren völliges Ausschalten, den Handel also in die eigenen Hände zu nehmen – war ja gerade der wichtigste Motor gewesen für die großen Entdeckungsfahrten von der Bronzezeit bis zur beginnenden Neuzeit. Manchmal könnte man aus der Geschichte lernen.
Es gibt in diesem Buch noch viel mehr Entdeckungen zu machen, zum Beispiel die Odyssee als literarisch überarbeitetes kodifiziertes Handbuch für Weltreisende: Die Lotusesser als Warnung, in fremden Ländern unbekannte Speisen oder Getränke zu sich zu nehmen (und schon gar nicht in großen Mengen); der mit Wein betrunken gemachte Polyphem als Tipp, umgekehrt solche Drogen mit sich zu nehmen, um Händler aus Völkern, die sie nicht kennen, damit einzulullen. Die von der Antike bis zur Neuzeit immer wiederkehrenden monströsen Völker am Rand der bekannten Welt – je mehr man von der Welt kannte, um so weiter nördlich / südlich / östlich wurden sie angesiedelt. Dasselbe aber auch mit Völkern, die ein utopisches Leben führten. Die auf Aristoteles zurück zu führende Ansicht, die Erde kenne kalte und gemäßigte Klimazonen und in der Mitte eine heiße – so heiß in der Tat, dass dort kein Leben möglich sei; und die Tatsache, dass die gemäßigte Klimazone des Nordens immer weiter ausgedehnt wurde, je mehr man von der Welt an deren Rand wusste. Kriege, die entlang der alten Handelswege geführt wurden: Alexanders Zug nach Indien, Caesars Eroberung Britanniens. Die Tatsache, dass die meisten Abenteurer der Meinung waren, im Grunde genommen nur schon Bekanntes (wieder) zu erforschen, weil nach der Überlieferung immer schon einer vorher dort gewesen war – und sei es einer der mythischen Heroen gewesen, so, wie Herakles und Dionysos bereits Großkönige in Indien gewesen sein sollen, lange bevor sich Alexander aufmachte, es ihnen gleich zu tun. Der Umstand, dass – neben Kaufleuten und Generälen – es vor allem Ärzte waren, die sich auf weite Reisen machten: griechische Ärzte, die in Indien die indischen Heilmethoden kennen zu lernen suchten und umgekehrt indische Ärzte, die dasselbe im antiken Griechenland taten. (Natürlich gaben die Gäste ihr heimisches Wissen dafür vor Ort an ihre Gastgeber weiter.)
Kleines Detail am Rande: Zum Schluss, in den Danksagungen wird auch jenem Abenteurer gedankt, der alle seine Abenteuer vom Schreibtisch aus erlebte: Karl May.
Hier muss ich aufhören. Alles in allem stellt Schulz’ Buch eine weit über ein Spezialgebiet hinausgehende Kulturgeschichte dar, deren Lektüre ich nur empfehlen kann.