In die Lücke, die der Verlag der Weidmannschen Buchhandlung aufgemacht hat, indem er Die Fragmente der Vorsokratiker von Hermann Diels und Walther Kranz seit den frühen 1950ern nicht mehr neu bearbeitet und so herausgegeben hat, sind unterdessen andere Verlage und andere Herausgeber vorgestoßen. Denn auch in der Altphilologie, der Textkritik und der Philosophie gibt es Änderungen, finden Fortschritte statt. Man findet neue Fragmente, oder ordnet schon Bekanntes anders ein. In 70 Jahren hat sich auch bei der Rezeption der Vorsokratiker so einiges geändert, und so erschien 2021 das vorliegende Buch als N° 14173 in der Reclam Universalbibliothek, nachdem frühere Versionen bereits in anderen Ausgaben, ebenfalls bei Reclam, erschienen sind.
Die beiden Hauptmotive der neuen Ausgabe waren, dass einerseits der 1999 aufgefundene bzw. veröffentlichte so genannte Straßburger Empedokles-Papyrus erstmals eingeordnet werden konnte, der doch einige wichtige neue Erkenntnisse über die Philosophie des Empedokles brachte, und andererseits eine der wichtigsten doxographischen Quellen, der ansonsten unbekannte Aëtios (u. a. von einem der Herausgeber, Jaap Mansfeld), rekonstruiert werden konnte. Auch sonst hat sich in den vergangenen 70 Jahren natürlich einiges getan.
Von diesen philologischen Fortschritten abgesehen, ist auch die prinzipielle Herangehensweise der beiden Herausgeber des 21. Jahrhunderts eine ganz andere. Diels ging davon aus, dass seine LeserInnen im Allgemeinen über die Vorsokratiker und im Besonderen über die antike Philosophie Bescheid wussten und nur noch eine Sammlung philologisch zuverlässiger Texte suchten, um nicht in Dutzenden Büchern herum blättern zu müssen. Auch setzte er grundlegende Kenntnisse des Altgriechischen voraus, weshalb er nur die ‚dunklen‘ Teile der Vorsokratiker übertrug. Andere Änderungen betreffen eher einen Unterschied in der Einschätzung der Qualität der Quellen: So nahm Diels noch an, dass Aristoteles, wo er seine Vorgänger referierte, doxographisch vorging, während wir heute der Meinung sind, dass er, wo er referiert, die Ansichten der alten Philosophen (absichtlich oder nicht) so umbog, dass sie zu seiner Argumentation passten.
Im 21. Jahrhundert also gehen Herausgeber und Verlag von anderen Prämissen aus, auch in Hinsicht auf ihr Publikum. Deshalb finden wir hier nach einer allgemeinen Einleitung in die Vorsokratik noch eine spezielle zu jedem einzelnen Philosophen, in der dessen Denken, bzw. dessen System, kurz umrissen wird. Darauf folgen, auf zwei Seiten links und rechts einander gegenüber gestellt, Originaltext und Übersetzung. Anders als bei Diels werden auch die referierenden Quelltexte übertragen. Last but not least sind in diesem Reclam-Buch – ein Büchlein ist es nicht mehr, schon gar nicht ein Heft: sein Umfang beträgt über 800 Seiten – sind hier also nur die wichtigsten Vorsokratiker zu finden, nämlich, in dieser Reihenfolge:
- Thales
- Anaximander
- Anaximenes, Pythagoras, Xenophanes (den die Herausgeber, anders als sonst üblich, zu diesen beiden stellen auf Grund der Ähnlichkeiten und wahrscheinlichen Abhängigkeiten des letzteren von den beiden ersten)
- Pythagoras und die älteren Pythagoreer
- Heraklit
- Parmenides
- Zenon von Elea
- Empedokles
- Anaxagoras
- Die Atomisten: Leukipp und Demokrit
Es folgen eine Konkordanz zu Diels / Kranz, ein Quellenverzeichnis und eine Auflistung weiterführender Literatur.
Um den Unterschied noch einmal grob zu skizzieren: Während Diels eindeutig der Meinung war, wer sich mit den Vorsokratikern beschäftigen wolle, habe zu ihnen hinzugehen, sind die heutigen Herausgeber der Ansicht, dass man die Lehrenden und Lernenden dort abholen soll, wo sie sich (wahrscheinlich) befinden. So finden wir in den einführenden Texten immer wieder Hinweise auf bekannte(re) moderne(re) Philosophen und Autoren. Bei Empedokles natürlich ein Verweis auf Hölderlins Drama Der Tod des Empedokles, aber auch Hegel taucht auf, Montaigne, Nietzsche, Brecht, Dante oder Charles Darwin, um nur ein paar zu nennen. (Ein paar mehr sind noch in den Schlagwörtern zu finden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.) Gemeinsam sind ihnen dann aber die immer wieder zitierten antiken Denker. (Auch hier: Ein paar sind in den Schlagwörtern zu finden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.)
Fazit: Eine empfehlenswerte, weil gute und solide Einführung in das Denken der wichtigsten Vorsokratiker, die auf dem aktuellen Stand der philologischen und philosophischen Erkenntnisse ist. Allerdings machen es solche Ausgaben schwieriger und damit unwahrscheinlicher, dass ein epochales Werk wie Die Fragmente der Vorsokratiker von Diels / Kranz jemals noch in einer aktualisierten Version erscheinen wird. Und das wiederum ist schade.