Oesterles Buch ist irrtümlich bei mir angekommen. Zwar hatte ich mir erlaubt, vom Gans-Verlag ein Rezensionsexemplar zu bestellen, aber nicht dieses Buch hier. Wohl hatte ich es auf der Liste wählbarer Bücher gesehen, aber aus Gründen beiseite gelassen. Dessen Thema nämlich – man könnte es am einfachsten mit „Thomas Mann und Deutschland bzw. die Deutschen, von 1922 bis 2025“ umschreiben – ist im Grunde genommen weder historisch noch geografisch meins. Auch wenn ich die Ereignisse in unserem nördlichen Nachbarland interessiert verfolge: Unsere Geschichte, unsere alten wie unsere aktuellen Probleme sind nicht völlig identisch. Und Thomas Mann hat zwar sein Leben hier beendet und liegt auch hier begraben, aber mit der Schweizer Politik kam er kaum in Berührung.
Anders natürlich mit der Politik Deutschlands. Oesterle beginnt seinen Essay, eigentlich eine kurze politische Biografie Thomas Manns, bei dem Vortrag Von deutscher Republik, den Mann im Oktober 1922 in Berlin gehalten hatte. Dieser Vortrag markiert für Oesterle Manns Abkehr vom chauvinistisch-wilhelminisch-militaristischen Weltbild, das Mann bisher geprägt hatte und das dessen Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 zu einer so ungustösen Lektüre werden ließ. Es markiert auch den Beginn des Hasses vieler Deutscher, der Mann, so Oesterle, bis heute entgegengebracht wird, und nicht nur von deutschnationaler Seite. In den vier Jahren zwischen den beiden politischen Texten hatte Thomas Mann eine nicht unbeträchtliche Entwicklung durchgemacht. Er sah, so Oesterle, dass die deutsche Jugend seit dem verlorenen Weltkrieg nach neuer Orientierung suchte, neue Ideale brauchte, und glaubte, ihr die demokratischen Ideale (die viele und gerade die jungen Deutschen als Oktroyierung durch die Siegermächte betrachteten) mittels Rückgriff auf die deutsche Romantik (Novalis!) schmackhaft machen zu können. Er übersah dabei – ich umschreibe hier Oesterles Argumentation einmal –, dass die meisten diesen seinen intellektuellen Überbau gar nicht verstanden, sondern (ob links oder rechts) einfach ihrem irrationalen Hass auf die Republik Luft machen wollten.
Oesterle folgt Manns politischer Entwicklung weiter, weg vom noch protestantisch-lutheranisch geprägten Standpunkt seiner Rede von 1922 hin zu einer Art Sozialismus (wie es Mann selber nannte), hin zu einem demokratischen Weltbild, wie er es (damals!) in den USA vorbildhaft verwirklicht sah. Er nahm dabei die homoerotische Note, die seinen Vortrag in Berlin geprägt hatte, ebenso zurück wie seine Abneigung gegen Revolutionen, die er nun als unter Umständen gerechtfertigt betrachtete. Auch Luther sah er nicht mehr so positiv wie früher. Oesterle führt das unter anderem darauf zurück, dass Thomas Mann im US-amerikanischen Exil mit unitarischen Gemeinden bekannt wurde, die schon in ihrer Organisation eine eher radikal-demokratische Prägung aufweisen. Thomas Manns neues Verständnis der Demokratie, das er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiter entwickelte, wäre also noch wie vor christlich geprägt, wenn auch nicht mehr hanseatisch-lutheranisch. Während er zu Beginn der Adenauer-Zeit die Anlehnung an den Westen des ehemaligen Kölner Bürgermeisters noch ablehnte und für ein neutrales, weder westliches noch östliches Deutschland plädierte, war er dann doch einer jener Männer, die die BRD (die Mann zunächst hartnäckig als D.B.R. abkürzt, also „Deutsche Bundesrepublik“) an den Westen und seine Werte heranführten. Allerdings Manns immer noch romantische Grundeinstellung, die Oesterle festhält, ging am Rest des Westens größtenteils vorbei. Selbst Hesse war politisch weniger romantisch wie Mann.
Ein kurzer Überblick über die weitere Rezeption Thomas Manns in Deutschland (Ost wie West, und auch nach der Wiedervereinigung) schließt den Essay ab.
Persönlich fand ich Oesterles Versuch (wie er „Essay“ auf dem Titelblatt verdeutscht) sehr informativ, auch weil ich mich um diesen Aspekt von Thomas Manns Leben und Werk bisher nur wenig gekümmert habe. Insofern war der Irrtum der Auslieferung durchaus ein Glücksfall für mich. Ich bin aber auch überzeugt, dass ich dem Text zu wenig gerecht werden kann – ganz einfach, weil mich vieles darin nicht in dem Maße betrifft, wie es Oesterle für sein Publikum voraussetzt. Dennoch, liebe deutsche Mitlesende, kann ich festhalten: Eine Lektüre lohnt sich! Gerade in Zeiten wie diesen.
Kurt Oesterle: Es lebe die Republik! Wie Thomas Mann zum gewichtigen Fürsprecher der Demokratie wurde und was wir heute von ihm lernen können. Aus Anlass seines 150. Geburtstags. Ein Versuch. Berlin: Gans Verlag, 2025. (= Reihe Essay, Band 8)
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar – auch wenn es irrtümlich zugeschickt wurde.
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