Ausstellungskataloge haben wir hier noch nie vorgestellt. Am nächsten daran waren wir bei der Vorstellung der Briefe, die Rilke schrieb anlässlich der Cézanne-Retrospektive in Paris, – Briefe, die wir zusammen mit den Herausgebern als eine Art nachträglichen Katalog der Ausstellung betrachteten, wobei wir tatsächlich auch auf den offiziellen Ausstellungskatalog Bezug genommen haben. Über die Textsorte ‚Ausstellungskatalog‘ will ich auch dieses Mal weiter kein Wort verlieren, das wäre ein Thema für sich. Mein Interesse am vorliegenden Ausstellungskatalog liegt im ausgestellten Werk.
Und das ist so: Ich habe kürzlich in einem anderen Briefwechsel, dem der Autorin Adelheid Duvanel und ihrer Schriftsteller-Kollegin und Freundin Maja Beutler, die Gemälde und Zeichnungen Duvanels immer wieder erwähnt gefunden. Ich habe nach Veröffentlichung meines Aperçu einen Hinweis auf eine aktuelle Ausstellung einiger ihrer Bilder (ich glaube, in Duvanels Heimatstadt Basel) gefunden, wo ich aber nicht hingehen konnte. Katalog gab es dort offenbar keinen. Der Limmat Verlag, in dem der Briefwechsel letztes Jahr erschienen ist, hat mich netterweise auf die schon etwas ältere Ausstellung in St. Gallen aufmerksam gemacht, wo zumindest der Katalog tatsächlich noch erhältlich ist. (Er kostet CHF 30.00 + Versand. Und nein: Ich kriege für diese Werbung nichts, aber der Katalog ist seinen Preis trotz eines Umfang von nur 42 Seiten wert. Er enthält neben ein paar Schwarz-Weiß-Fotografien von Duvanel und vielen Reproduktionen ihrer Bilder noch zwei ihrer Kurzgeschichten sowie einen Essay der Museumsleiterin und Herausgeberin des Katalogs, Monika Jagdfeld. Außerdem ist wohl fast jedes Museum auf dieser Welt über jede Form von Unterstützung froh.)
2009 nämlich waren im Museum im Lagerhaus in St. Gallen Zeichnungen und Gemälde der Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel zu besichtigen. Das Museum ist spezialisiert auf so genannte Art brut bzw. naive Kunst bzw. Outsider Art. (Ich weiß, dass zwischen den drei Begriffen Unterschiede gemacht werden (können); als Nicht-Kunsthistoriker werde ich sie hier aber äquivalent verwenden.) Die ausgestellten Bilder stammten größtenteils aus dem Besitz des noch lebenden ältesten Bruders von Adelheid Duvanel und aus dem Nachlass von Maja Beutler.
Jagdfelds Essay zeigt die Entwicklung der Zeichnerin und Malerin Duvanel auf, von Bleistift- bzw. Kugelschreiber-Zeichnungen über die dunklen Gemälde der sich als Existenzialistin fühlenden und kleidenden jungen Frau – meist (Auto-)Porträts, die Anklänge aufweisen an Zeichnungen eines Picasso. Dann die rund 20 Jahre dauernde Pause während ihrer Ehe und auch noch nach der Scheidung, da ihr Mann (bzw. später Ex-Mann) der Meinung war, er habe der einzige bildende Künstler der Familie zu sein und aus Eifersucht sogar einmal rund 1000 Bilder aus Duvanels Wohnung stahl. Die späteren Bilder arbeiten mit kräftigen Farben und Formen – Jagdfeld vergleicht Duvanel im Stil mit Frida Kahlo. Sie sind auch nicht mehr Gemälde sondern stellen surrealistische Situationen dar, auch symbolistische wohl – die einen kommen ja aus den anderen. Oft zeichnet oder malt Duvanel in ihren späteren Werken auch um einzelne ins Bild integrierte Worte, die den Inhalt definieren: zum Beispiel AIDS oder Die Dornenkrone. Diese Krone aber wird im Bild von einer Frau getragen, wie überhaupt die Männer in der Minderzahl sind. Wo einer auftaucht, kann es auch sein, dass er – wie in der ebenfalls im Ausstellungskatalog abgedruckten Kurzgeschichte Der Vogel – eigentlich Satan ist und Hörner trägt.
Diese intensive malerische und zeichnerische Beschäftigung mit der Conditio humana der Frau, ein – durch ihre Depressionen geprägter – Versuch Duvanels, sich als verletzte und verletzbare Frau doch zu erhalten, führen Jagdfeld dazu, in ihren Bildern auch einen emanzipatorischen Charakter zu sehen. Dem kann man wohl zustimmen, auch wenn Duvanel nicht eigentlich politisch tätig war. (Auch als Mitglied der Gruppe Olten, einer dissidenten Abspaltung vom Schweizer Schriftstellerverband, trat sie nie öffentlich in Erscheinung.) Ihr Kampf um Emanzipation war vorwiegend ein Kampf mit ihren eigenen Dämonen, die allerdings von außen induziert waren: Jagdfeld vermutet an Hand einiger Bilder gar eine Vergewaltigung des Kindes durch den Vater. Viele (die meisten?) ihrer hier gezeigten Bilder sind bei ihren zum Teil Jahre dauernden Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken entstanden.
(Fast) zum Schluss noch ein Caveat, auch an mich selber. Art brut ist nicht gleich Art brut. Und Bilder, die in einer psychiatrischen Klinik entstanden sind, sind nicht gleich anderen Bildern von anderen Menschen, die ebenfalls in einer (anderen) psychiatrischen Klinik entstanden sind. Ich habe vor Jahren eine der ersten Ausstellungen gesehen von Werken Adolf Wölflis (und anderen), damals im Kunstmuseum Bern. Ich bin nicht nur kein Kunsthistoriker, ich bin auch kein Psychiater. Aber bei Wölfli wurde seinerzeit (er lebte von 1895 bis 1930) Schizophrenie diagnostiziert. Adelheid Duvanel litt an Depressionen. Wölflis Bilder zeichnen sich durch Realismus aus, der kombiniert wurde mit sehr viel Repetitivem. Duvanel steht mit ihren Bildern viel näher an Pablo Picasso in seiner zweiten Lebenshälfte oder eben an Frida Kahlos Bildsprache. Wölfli würde ich als ‚echte‘ Outsider Art betrachten. Duvanel hatte zwar ebenfalls keine Ausbildung in einer Kunstschule genossen, war jedoch tiefer im kunsthistorischen Strom verankert als der echte Aussenseiter Wölfli. Ohne ihren Mann und ohne ihre Depressionen hätten wir in ihr eine Doppelbegabung feiern können.
Und nun wirklich zum Schluss noch Folgendes. Monika Jagdfeld liefert uns in ihrem informativen Essay viele Einzelheiten über die darstellende Künstlerin, die Schriftstellerin, aber auch den Menschen, die Frau, Adelheid Duvanel. Am Ende schreibt sie, Duvanel hätte Selbstmord begangen – etwas, das ich in dieser Eindeutigkeit in späteren Bemerkungen zu Duvanels Leben nirgends mehr gefunden habe. War man 2009 noch direkter? Oder einfach sicherer? Der Konsens heute ist, dass Adelheid Duvanel unter Medikamenteneinfluss nachts noch in einen Wald ging, vielleicht um – wieder einmal – ihre Tochter zu suchen. Dort starb sie an Unterkühlung. Als Selbstmord-Methode scheint mir das doch recht kompliziert zu sein. (Andererseits könnte ich mir vorstellen, bewirkt die Kombination von Medikamenten und Unterkühlung einen recht schmerzlosen Tod.)
Wie dem auch sei: Vorliegender Ausstellungskatalog ist auch ohne die dazu gehörende Ausstellung lesens- und betrachtenswert. Er enthält viele Informationen, die uns nicht nur die gestaltende Künstlerin besser erkennen lassen sondern auch die schreibende.
Monika Jagdfeld: Wände dünn wie Haut. Zeichnungen und Gemälde der Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel mit zwei Erzählungen von Adelheid Duvanel. Museum im Lagerhaus, Schweizerische Stiftung für Naive Kunst und Art Brut, St. Gallen. 1. September – 22. November 2009.
[Das Museum im Lagerhaus existiert noch heute. Es nennt sich seit dem 16. Januar 2023 Open art museum. Mit dieser Anbiederung an den aktuellen Zeitgeschmack und an ein erhofftes internationales Publikum durch Anglizismen stehen die St. Galler zwar heute bei weiten nicht alleine da, im Gegenteil. Das Museum ist aber weiterhin auf naive Kunst und Art brut spezialisiert. Ein Name, der ganz einfach den Ort bezeichnet, an dem das Museum zu Hause ist, schiene mir – weil naiver – dem Zweck des Museum angemessener …]