Bemerkungen und Betrachtungen zu „Tim Bouverie: Mit Hitler reden. Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg.“

Bouverie ist ein junger Historiker und Journalist und hat mit seinem Buch über die Appeasementpolitik einen beachtlichen Verkaufserfolg erzielt. Nicht zu unrecht: Stilistisch auf ein breites Publikum abgestimmt ist es doch penibel recherchiert, der Autor ist mit seinen Quellen vertraut und erläutert mit historischem Sachverstand den Weg, den die westliche Welt sehenden Auges in Richtung Zweiter Weltkrieg beschritt. Bouverie ist – auch wenn sein Name anderes vermuten lässt – Engländer und so liegt der Fokus auf der Politik des Vereinigten Königreiches. Auch dies zurecht, denn es war diese Politik, die entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung hatte und die das Verhalten fast aller anderer Staaten, insbesondere Frankreichs, mitbestimmte.

Diese Chronologie der Versäumnisse, einer bedrückend wirkenden Einfalt und dümmlich-egoistischem Schielen auf den kleinen (meist ökonomischen) Vorteil verstört – und verstört umso mehr, als dass das Buch durch die rezenten politischen Ereignisse eine ungeahnte Aktualität erfahren hat. Labour und eine einflussreiche Friedensbewegung bemühten sich in den 30ern auch dann noch um das Aussetzen der Mittel für die Landesverteidigung, als Hitler längst alle Verträge gebrochen und für jeden offenkundig eine enorme militärische Aufrüstung in Gang gesetzt hatte. Er hat (oder hätte) allen pazifistischen Bestrebungen deren Weltfremdheit und Gefährlichkeit vor Augen geführt: Schien es im Ersten Weltkrieg noch nachvollziehbar, auf Frieden um jeden Preis zu pochen (weil man in den machtpolitischen Schaltzentralen ein Mindestmaß an Vernunft vermuten durfte), so wurde diese Haltung angesichts der nationalsozialistischen Aggression lächerlich und hat u. a. zur großen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges beigetragen. Wobei das ganze friedensbewegte Tun (so hochherzig und edel es anmuten mag) auch später (und noch heute) von beachtlicher Beschränktheit zeugt.*

Das entscheidende Kriterium, weshalb Appeasement-Politik, verquere Friedensverhandlungen (die westlichen Staatsmänner haben sich vor dem 22. Februar in regelmäßiger Abfolge an Putins weißen Tischchen eingefunden) scheitern, liegt in einem Gegenüber, das sich an herkömmliche zwischenmenschliche, zwischenstaatliche Gepflogenheiten gar nicht zu halten gedenkt. Hitlers Ausspruch, dass nun hoffentlich „nicht wieder irgendein Friedensvermittler auftauchen und den militärischen Einmarsch [in Polen] verhindern möge“ demonstriert diese Einstellung ebenso deutlich wie Putins Floskeln, die offenkundigen Lügen vor dem Einmarsch in die Ukraine. Wobei dieses Hinwegsetzen über alle Regeln der Diplomatie, des Wahrheitsanspruches, der Integrität, das dreiste Lügen ohne auch nur ein Mindestmaß an Skrupeln zu zeigen, kein Privileg der beiden vorgenannten Herren ist. Orban, Salvini, Kurz (nebst unzähligen anderen) und natürlich der Gottvater allen Betruges und der Hochstapelei, Donald Trump, haben das mit Verve vorexerziert – und das derlei bei den erwähnten Personen weniger einschneidende Folgen hatte, liegt nicht an deren Moral, sondern einzig an den zufälligen Umständen, die manche Grenzüberschreitungen nicht zuließen (glaubt jemand ernsthaft, dass Trump, Orban & Co. nicht in selbstverständlicher Weise ein paar Todesopfer (oder auch mehr) in Kauf nehmen würden, um an die Macht zu kommen (oder zu bleiben), wenn dies politisch einigermaßen opportun und zielführend wäre?)

Es ist im übrigen diese Unverfrorenheit bezüglich Korruption, Lüge, Unmenschlichkeit, die ein neues Element der letzten Jahre bildet. Davor waren die Linien meist strenger gezogen, man wusste von Diktatoren, um ihre Verbrechen (was nicht hinderte, mit diesen eine – vorteilhafte – wirtschaftliche Verbindung einzugehen), wollte sich aber selbst nicht beim Lügen und Betrügen erwischen lassen. Nun ist diese letzte Schranke unter dem kuriosen Vorwand der „Ehrlichkeit“ gefallen: Man suggeriert (erfolgreich), dass ja jeder lüge und dass daher jener, der dieses offen bekenne, den moralischen Vorzug verdiene vor allen anderen (womit unterstellt wird, dass es Integrität schlichtweg nicht gebe – sondern nur Menschen, denen ein Fehlverhalten noch nicht nachgewiesen werden konnte). Diese Haltung wird – so nebenbei und wohl unbeabsichtigt – von den erwähnten stolzen Misanthropen unterstützt: Auch in dieser Weltsicht sind alle einfach nur schlecht (außer man selbst), darf man nur Übles erwarten und ist alles und jedes einzig eine Bestätigung dafür, dass man die allgemeine Schlechtigkeit schon immer prophezeiht, man es „immer schon gewusst“ habe.**

Und so sind die Jahre nach 1933 eine Blaupause für den Umgang mit Putins offenkundiger Unverfrorenheit, dem ja nicht nur an einer Erweiterung seines Machtbereiches gelegen, sondern auch und vor allem um die Vernichtung demokratischer, liberaler Werte zu tun ist. Ein Treppenwitz der Geschichte ist dabei die Unterstützung der europäischen Linken für den Kremlherrscher: Auch wenn dieser so gut wie alle extrem rechten und faschistischen Bewegungen gefördert hat (in Italien, Österreich, Deutschland, Ungarn, Frankreich etc.), ist deren Feindbild NATO immer noch so tief verwurzelt, dass man die Ängste Putins nur zu gut zu verstehen meint. Wobei – glauben diese Menschen tatsächlich, dass die baltischen Staaten sich der NATO angeschlossen haben, um als Vorposten für eine Eroberung Russlands zu dienen und nicht deshalb, weil die Erinnerung daran, am Beginn des Zweiten Weltkrieges bloße Verhandlungsmasse geworden zu sein, noch nicht ganz verschwunden ist?***

Bouveries Buch ist ein glänzender Beweis dafür, dass man aus der Geschichte rein gar nichts zu lernen pflegt. Sowie in den 30ern die Engländer Flugzeugtriebwerke nach Deutschland verkauften (sonst würde dieses Geschäft ja doch jemand anderer machen), so kauft man heute Öl und Erdgas aus Russland (und demnächst von arabischen Diktatoren), bezieht Medikamente aus einem protofaschistischen Indien und billige Computerchips aus China. Die Hoffnung, dass diese unmoralischen Geschäfte nur die einheimische Bevökerung betreffen würde (mit uigurischen Umerziehungslagern konnte man bislang ganz gut leben und war recht kreativ darin, diese Verbrechen zu bemänteln bzw. sie hinter einem „größeren Ganzen“ (was immer das dann ist) verschwinden zu lassen), hat sich als trügerisch erwiesen. Putins Verhalten ist ja nun wirklich ärgerlich, indem er das mit dem Westen verdiente Geld für einen Eroberungskrieg einsetzt und gar die eigene Sicherheit bedroht: Jetzt sind wir doch dummerweise gezwungen, unsere von ökonomischen Interessen dominierte, geheuchelte Moral zu hinterfragen. Wobei ich keinen Zweifel habe, dass man auch in Zukunft Mittel und Wege finden wird, mit ein wenig Kreativität diese Heuchelei als moralisch akzeptabel oder gesellschaftlich unabdingbar darzustellen. So pflegt man sich mittlerweile ohnehin schon mehr Sorgen um „wirtschaftliche“ Folgen des Krieges im Westen zu machen als um ein paar zerbombte Städte in der Ostukraine.

Und mit ein wenig Whataboutism ist dann die Welt ohnehin wieder im Lot: Gab es da nicht auch den Irakkrieg, Afghanistan, Militärdikaturen in Mittel- und Südamerika? Auch wenn schwer zu verstehen ist, warum die toten afghanischen, irakischen Kinder jene in der Ukraine rechtfertigen sollen. Und aus der Geschichte lernen ist eigentlich gar nicht notwendig: Wir müssten uns schlicht vernünftig und einigermaßen moralisch verhalten. Weil aber beides mit möglichen Einschränkungen beim Lebensstandard verbunden ist (man glaubt ohne SUV, Urlaubsreisen, Kleidung oder irgendwelche Gimmicks unglücklicher zu sein bzw. lässt sich von diesem vorgeblichen Unglück gerne überzeugen), wird weder auf Umweltschutz geachtet, auf gerechte Verteilung der Güter, lässt man sehenden Auges Menschenrechtsverletzungen zu etc. etc. Und man glaubt offenbar tatsächlich, dass Glück und Weh von den Benzinkosten abhängig ist: Mein amüsiert-scherzhaftes und mit strahlendem Lächeln an der Tankstelle konstatiertes „wenigstens der Treibstoff wird immer billiger, das Tanken ist ein Genuss“ hat wenig zur Erheiterung des Personals und der anwesenden Kundschaft, einiges aber zur Bereitschaft der dort Versammelten beigetragen, mich stante pede der Lynchjustiz zuzuführen.

So ist die damalige und die heutige Situation nur indirekt den Verächtern aller menschlichen Werte wie Hitler oder Putin (oder, oder, oder …) geschuldet: Vielmehr sind es der Egoismus und die Kurzsichtigkeit aller, das verbissene Festhalten an einem Lebenskonzept, die unhinterfragt jene zweifelhaften politischen Entscheidungen stützen, die uns (in meinem Fall ob des fortgeschrittenen Alters eher den Nachfahren) in einer Vehemenz und Nachdrücklichkeit einholen werden, die unser Vorstellungsvermögen bei weitem sprengt. Man wird irgendwann an die bescheidene Flüchtlingswelle von 2015 denken, wenn sich ob der Umstände plötzlich 100 Millionen oder eine Milliarde Menschen auf den Weg machen werden und man wird vielleicht mit Kopfschütteln und Unverständnis fragen, warum denn – wo man doch die Konsequenzen der Politik kannte – einfach nichts getan wurde (wie man sich heute über die Dummheit vor dem Ausbruch der beiden Weltkriege die Augen reibt). Ich befürchte allerdings, dass diese Kriege im Vergleich zu all dem, was uns erwartet, fast harmlos erscheinen werden.

Abgeschweift – aber ein Buch, das zu weitergehenden Überlegungen Anlass gibt, kann so schlecht nicht sein. Und ich würde gern mit einem positiveren Ausblick enden (weil ich, wie oben erwähnt, mir sicher bin, dass die Welt nicht nur von Egomanen und Verbrechern bewohnt wird): Aber selbst die hilfsbereiten, freundlichen Mitbürger sind oft von erstaunlicher Beschränktheit, wenn es nicht um persönliche Teilnahme sich handelt, sondern um Grundhaltungen von größerer Tragweite. Man blickt mit Erschrecken in religiöse, patriotische, rassistische Abgründe und weiß, dass man – und spräche man auch mit Engelszungen – nichts an den Vorurteilen zu ändern vermöchte.


*) Das ist ein so seltsam weltfremdes Tun, indem man völlig Selbstverständliches (wer – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wäre denn nicht für Frieden, für eine Welt, in der sich alle an den Händen fassen und jeder dem anderen nur das Beste wünscht?) zum hehren Ziel einiger weniger erklärt und gleichzeitig ignoriert, dass die Welt und die Menschen so nicht sind. Und nein – sie sind auch nicht so schlecht, wie bekennende Misanthropen häufig behaupten, die diese ihre Menschenfeindlichkeit mit einem hochtrabenden Gestus präsentieren (weil sie einzig die Abgründe des Daseins damit zu durchschauen vorgeben), sondern häufig eben dumm, leicht beeinflussbar, wenig kritisch, oft aber auch zu staunenswerter Hilfsbereitschaft fähig. Die Friedens- und Ostermarschierer sind ähnlich selbstgefällig, sie stellen ihre scheuklappenbehaftete, einfältige Meinungen als moralisch erhaben und unantastbar dar und ignorieren wohlweislich alles, was ihren tugendhaften Dünkel ins Wanken bringen könnte.

**) So nebenbei, weil dies in moralphilosophischen Diskussionen häufig vernachlässigt wird: Moral, Hilfsbereitschaft oder einfach nur höfliches Verhalten sind Dinge, die ebenso erarbeitet, erlernt und erkämpft werden müssen wie alles andere. Die Allerwenigsten kommen hochmoralisch auf die Welt wie auch niemand als Schachgroßmeister, Philosoph oder Fußballstar geboren wird. Ohne das Bewusstsein, dass moralisches Verhalten gewollt und man immer wieder sich aufs Neue darum bemühen muss, wird man in einem selbstzufriedenen Determinismus der Form „so bin ich halt, das ist mein Charakter“ versinken (und sich auf nämlichen Charakter auch dann noch berufen, wenn derselbe ein höchst fragwürdiger und abstoßender ist).

***) Im übrigen beginnt nach Russlands Verständnis auch heute noch der große vaterländische Krieg erst mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion. Dass zuvor Polen zerstückelt, ein Pakt mit den ach so verächtlichen Faschisten geschlossen, das Baltikum erobert, Finnland angegriffen wurde – das alles wird wohlweislich verschwiegen.

Tim Bouverie: Mit Hitler reden. Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg. Hamburg: Rowohlt 2021. (ebook)

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