Arthur Rimbaud hat literarisch betrachtet, von ein paar Schülerarbeiten abgesehen, nur Gedichte verfasst. Insofern könnte dieses vor mir liegende Taschenbuch1) an Stelle von Sämtliche Gedichte auch „Sämtliche Werke“ heißen. Nur die Briefe fehlen – mit zwei Ausnahmen, auf die ich noch kommen werde. Der Herausgeber und Übersetzer hat Rimbauds Gedichte, so weit möglich, chronologisch geordnet in Gruppen wiedergegeben. Veröffentlicht wurde zu Lebzeiten Rimbauds das Wenigste. Vieles haben wir nur in Abschriften Dritter. So sieht die Anordnung Eichhorns aus:
- Poésies / Gedichte. 1896-1871
- Vers nouveaux et chansons / Neue Verse und Lieder
- Une saison en enfer / Ein Aufenthalt in der Hölle
- Illuminations / Leuchtene Bilder
- Lettre dites »du voyant« / »Seher-Briefe«
Sowie einen Anhang mit Anmerkungen, Zeittafel, Literaturhinweisen, Nachwort und Inhaltsverzeichnis – alles also, was man sich wünscht, wenn man sich vertieft mit Rimbaud auseinandersetzen will, ohne gerade zum Spezialisten / zur Spezialistin werden zu wollen.
Rimbaud der Lyriker verachtete die meisten seiner lyrischen Vorgänger und Zeitgenossen. Ausnahmen machte er nur für Victor Hugo, Charles Baudelaire und Paul Verlaine. Die Liebe zu Hugo zeigt sich vor allem in seinen ersten Gedichten, die – ähnlich wie die seines Vorbildes – viel Stoff aus der zeitgenössischen Politik verarbeiteten, vor allem – wie bei Hugo auch – in Form von impliziter oder expliziter Kritik an den aktuellen Verhältnissen. Dazu muss man wissen, dass Rimbaud zunächst sehr geprägt wurde durch den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und die darauf folgende Revolte in Paris, die man heute als die Pariser Kommune kennt. Er wäre gern bei der Kommune dabei gewesen, reiste auch mit der Bahn in die Hauptstadt, wurde aber bei seiner Ankunft dort festgehalten, weil er keinen gültigen Fahrschein hatte und auch kein Geld, um einen zu lösen. (Seine Mutter, eine bigott-religiöse Fanatikerin, hielt ihren, ihrer Meinung nach missratenen Sohn, finanziell sehr kurz. Rimbaud war damals gerade 17 Jahre alt. Ein Freund und ehemaliger Lehrer löste ihn aus. Rimbaud sollte sich damit bedanken, dass er dessen poetische Versuche in einem der beiden »Seher-Briefen« in Grund und Boden stampfte.)
Charles Baudelaires Einfluss ist weniger direkt festzustellen. Er besteht vor allem im fehlenden Respekt dem gegenüber, was zeitgenössische Kritik und Geschmack als ’schön‘ empfanden. Die Nachwelt sollte Arthur Rimbaud diesen seinen mangelnden Respekt gegenüber dem (aus heutiger Sicht: verzopften und engstirnigen) Verständnis von Dichtung danken, indem sie ihn – zusammen mit seinem Vorbild Baudelaire – in den Pantheon der modernen Dichtkunst aufnahm. Vor allem die Symbolisten und die Surrealisten sollten die beiden Namen praktisch immer in einem Atemzug bei ihren Idolen aufzählen.
Verlaine war der einzige, den Rimbaud persönlich kennen lernte. Sie waren auch eine Zeitlang ein Paar – sehr zum Ärger von Verlaines Frau, die gerade ein Baby gekriegt hatte und diese Abwendung ihres Mannes von ihr mit einer Scheidung beantwortete. Allerdings war auch die Beziehung Verlaine – Rimbaud alles andere als problemlos. Mit zunehmendem Alter löste sich Rimbaud emotional und poetisch vom zehn Jahre älteren Verlaine.
„Mit zunehmendem Alter“ … nun ja. Das klingt ein bisschen seltsam, bei einem Menschen, der mit knapp 16 Jahren seine ersten bis heute überlieferten Gedichte geschrieben hat, und mit 19 bereits sein ganzes Werk verfasst hat.
Dennoch lässt sich sogar ein Entwicklung feststellen. Rimbauds ganz erste Gedichte waren, wie bereits gesagt, formal und inhaltlich noch ganz der Spätromantik eines Victor Hugo verpflichtet. Nach und nach begann er Form wie Inhalt aufzubrechen. Einen ersten Höhepunkt erreichte Rimbauds Kunst im Bateau ivre von 1871, wo ein Schiff als lyrisches Ich fungiert und von einer symbolträchtigen Reise durch eine fantastische Landschaft berichtet. Noch Paul Celan fühlte sich davon so sehr berührt, dass er in einer dreitägigen Trance das Gedicht ins Deutsche übertrug.
In späteren Gedichten wird Rimbaud mehr und mehr auf eine eigentliche Versifizierung verzichten. Es sind mehr und mehr Prosahymnen, was wir nun finden. Die verwendeten Bilder weisen auf den Expressionismus voraus – eigentlich umgekehrt: wurden von den Expressionisten ihrerseits ausgeschlachtet. Auch wenn nicht alles fertig geworden ist, finden wir wunderbare und berührende Bilder. Nicht alles ist verständlich; Rimbaud verwendet in seinen Gedichten (ähnlich wie Gérard de Nerval, den er offensichtlich nicht kannte, sonst hätte er ihn an die Stelle von Hugo oder Verlaine gesetzt, denke ich) sehr viele private Bilder und vermischt sachlich wie sprachlich sehr viele Ebenen. Das Wort ‚hermetische Dichtung‘ ist auch bei ihm am Platz.
Das beweisen auch die beiden »Seher-Briefe«. Es handelt sich hier um Briefe, die Rimbaud tatsächlich abgeschickt hat, um den jeweiligen Empfängern klar zu machen, worum es ihm beim Dichten eigentlich geht. Im zweiten, an den Verleger Paul Demeny meint er:
Ich sage, daß man Seher sein, sich zum Seher machen muss. Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfassende und planvolle Verwirrung aller Sinne.
Und das alles, so weit wir wissen, ohne die Künstlichen Paradiese, die Rauschgifte, mit denen sich Baudelaire stimulierte.
Ein Wort noch zur Übersetzung von Thomas Eichhorn. Er übersetzt Verse als Verse, kann aber nicht immer Rhythmus und Reimschema einhalten. Auch unterläuft ihm, was praktisch jedem unterläuft, der aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt: Er verwendet häufig Wörter einer ‚höheren‘, einer ‚poetischen‘ Sprachebene, wo Rimbaud bewusst Alltagsbegriffe gesetzt hat. Das macht den Franzosen gestelzter, als er tatsächlich ist.
1) Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort herausgegeben von Thomas Eichhorn. Übersetzung der ›Illuminations‹ von Reinhard Kiefer und Ulrich Prell. München: dtv, 92021