Fünf Kriminalromane mit dem Fahnder-Wachtmeister Jakob Studer als Ermittler konnte Friedrich Glauser vor seinem frühen und unerwarteten Tod 1938 (am Vorabend seiner Hochzeit) fertig stellen. Von weiteren drei, an denen er noch 1938 arbeitete, existieren nur Fragmente. Fragmente, das heißt bei Glauser: Romananfänge. Denn das Schwerste für Glauser war es, in eine Geschichte ‚hinein zu kommen‘, den Anfang zu fianden. (Das Zweitschwerste war es dann für ihn, die Geschichte nicht mit Personen und Handlungsorten zu überfrachten.) Am meisten Versionen, nämlich acht, gibt es vom so genannten Ascona-Fragment, so genannt nach dem Handlungsort, der Tessiner Gemeinde Ascona am Lago Maggiore.
Die verschiedenen Versionen des Anfang widersprechen sich zum Teil, aber nur wenig. Die Grundidee Glausers war es offenbar, Studer in den frühen 1920ern Ferien in Ascona machen zu lassen, wo er dann von einem jungen Mann angesprochen wird, der auf der Straße vor der alten Mühle, in der er wohnt, eine junge, erstochene Frau gefunden hat und nun fürchtet, die lokale Polizei werde ihn der Tat verdächtigen. Studer ist zu jenem Zeitpunkt seit etwas mehr als einem Jahr Fahnder-Kommissär der Berner Stadtpolizei. Der junge Mann heißt Spigl, und genau das ist er: das Spiegelbild Glausers, der seinerseits wirklich in den frühen 1920ern zusammen mit seiner Freundin in einer alten Mühle lebte und in Kontakt stand mit der Kolonie von Kunstschaffenden jedweden Geschlechts, die damals auf dem Monte Veritá lebten und sich mehr oder weniger der Zürcher Dada-Bewegung angehörig fühlten. In verschiedenen Variationen hat Glauser dieses Grundgerüst ausgeführt und ausgefüllt. Er experimentierte auch mit der Möglichkeit, diese Geschichte in der Ich-Form aus der Perspektive des jungen Mannes zu erzählen.
Viel mehr konnte Glauser der Geschichte nicht hinzufügen.
2020 dann unternahm es der Tessiner Autor Andrea Fazioli, den Roman fertig zu schreiben. Fazioli ist im italienischen Sprachraum ziemlich gut bekannt durch seine ‚Gialli‘, die italienische Form des Thrillers, und durch seine Kriminalromane um den Privatdetektiv Elia Contini, den er offenbar als eine Art Eigenbrötler gezeichnet hat – was im Grunde genommen eine ideale Voraussetzung dafür wäre, den Eigenbrötler Studer darzustellen. Das Problem der verschiedenen, sich widersprechenden Versionen des Anfangs löst er, indem er sich selber an den Anfang stellt, den Schriftsteller Andrea Fazioli, bei dem eines Tages ein Mann erscheint, der vorgibt, in einem alten Koffer mit unbekannten Manuskripten von Friedrich Glauser gefunden zu haben – darunter eben die Geschichte des Mordes in Ascona. Er bittet Fazioli darum, die Geschichte zu Ende zu schreiben, will sagen: den Mörder zu finden. Es entwickelt sich daraus ein, vor allem zu Beginn, recht kompliziertes und verwirrliches Spiel verschiedener Ich-Erzähler: Fazioli, Spigl und Glauser. Auch im Verlauf der Erzählung wird Fazioli immer wieder einmal aus der Geschichte um Studer heraus- und in die Geschichte um Fazioli und den Fremden hineintreten, der das Manuskript in Portionen und Portiönchen abliefert. Auch die Lektorin des Ich-Erzählers Fazioli wird per E-Mail einbezogen. Der Schluss ist dann einigermaßen überraschend, aber so stimmig, wie man es von einem Kriminalroman verlangen kann. Er mischt aber endgültig die verschiedenen Realitätsebenen, indem Studer zum Schluss offenbar in einem Fall ermittelt hat, der in die Realität des Ich-Erzählers Fazioli eingreift. Fazioli ändert damit die Spielregeln, die Glauser für seine Studer-Romane aufgestellt hat, aber einfach Glauser zu imitieren, wäre natürlich auch keine Lösung gewesen.
So weit, so gut. Oder auch nicht. Die Geschichte ist als Kriminalroman, wie gesagt, stimmig und klug gebaut. Aber (und das ist ein ganz großes ‚Aber‘): Es ist kein Studer-Roman mehr. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Fazioli, ganz wie es Glauser gern gemacht hat, Studer erkranken und den Fall mit hohem Fieber lösen lässt. Denn es fehlt ganz einfach die Atmosphäre, wie Studer das selber im Chinesen genannt hat: Studers Eintauchen in die Umgebung, in der der Mord stattgefunden hat. Die Kolonie der Dadaisten und Dadaistinnen auf dem Berg wird zusehends vernachlässigt zu Gunsten irgendwelcher Spaziergänge, die Studer in Ascona macht, um erst zum Schluss wieder wichtig zu werden. Die Lösung des Mordfalls kommt als eine Art Eingebung über Studer und ist nicht das Ergebnis langsamen Einfühlens in Land und Leute. Selbst Studers Frau ist nur Staffage – eine schon leicht verbitterte Frau, die sich weder vom Mann noch vom Kind verstanden fühlt und als Kompensation selbst in den Ferien billige Schundromane liest. (Das ist vielleicht die Änderung, die ich Fazioli am meisten übel nehme …)
Was regelmäßige Kriminalroman-Leser:innen ohne Kenntnis der Glauser’schen Vorbilder zu diesem Roman sagen würden, kann ich nicht beurteilen. Wenn man den Wachtmeister Studer kennt und, wie ich, die atmosphärisch dichte Stimmung von Glausers Romanen liebt, wird man hier enttäuscht sein.
Andrea Fazioli / Friedrich Glauser: Wachtmeister Studers Ferien. Kriminalroman.Aus dem Italienischen von Franziska Kristen. Zürich: Atlantis Verlag, 2022. [Die italienische Originalausgabe erschien 2020 in Bellinzona unter dem Titel Le vacanze di Studer. Un poliziesco ritrovato]