Friedrich Glauser: Gourrama

Luftaufnahme eines Innenhofes eines algerischen Gebäudes. Junge Muslime sitzen in einem Halbkreis im Sand. Ausschnitt aus Umschlagfoto von Henriette Grindat: Algérie, 1956.

Als sein »Schmerzenskind« hat Glauser seinen Roman über die Fremdenlegion bezeichnet, aber auch als »einzige Sache, zu der ich stehen kann«. Glauser, den die eigenen Erfahrungen in der Legion nie losließen, schrieb auch nach Erscheinen ganze Teile des Werkes neu.

Text auf hinterem Buchdeckel meiner Ausgabe; Verfasser:in unbekannt

Damit ist schon fast alles über diesen Roman gesagt – außer natürlich der Hauptsache. Tatsächlich nämlich war die Entstehung von Gourrama alles andere als einfach. Glauser versuchte seit längerem, sich als Schriftsteller zu etablieren – auch, um der persönlichen und finanziellen Misere zu entkommen, in der er lebte. Dafür war es – nach der damals gängigen Ansicht, die Glauser teilte – unbedingt nötig, dass der angehende Schriftsteller als Erstling einen „großen“ Roman veröffentlichte, der zugleich den Durchbruch bedeuten sollte. Schon diese Voraussetzungen waren eher geeignet, eine Schreibblockade nach der andern zu kreieren als einen Roman.

Nun waren zur Zeit, als Glauser an seinem Roman schrieb, Legionärsromane gerade in Mode – so sehr in Mode, dass sie schon beinahe ein eigenes Genre zu bilden begannen. Dummerweise aber passte Gourrama gar nicht in dieses Genre. Es gibt darin keine Kämpfe und keine Helden, nur die Schilderung des langweiligen Alltags in einer Garnison einer Kompanie der Fremdenlegion, die irgendwo verloren im Süden von Marokko stationiert ist. Kein Wunder lehnte Verlag um Verlag das Manuskript ab, bis dann ein Freund, Joseph Halperin, eine eigene Zeitschrift gründete und sich bereit erklärte, den Roman abzudrucken. Eigentlich hatte Glauser genau das nie gewollt – einen Abdruck in einer Zeitschrift. Er wusste, was es bedeuten würde: Kürzungen.

So kam es denn auch. Zunächst zusammen mit Glauser begann Halperin den Roman gnadenlos zusammenzustreichen. Dann kam es offenbar zu einem Zerwürfnis (auch musste Glauser nach Basel, um dort den letzten Wachtmeister Studer-Krimi, Die Speiche oder auch Krock & Co., seinerseits für die Veröffentlichung in einer anderen Zeitschrift zu kürzen), und so bearbeitete Halperin den Schluss von Gourrama alleine. Anders als bei Krock & Co. existiert bei Gourrama ein Durchschlag des Typoskripts mit den Änderungen. Wir können davon ausgehen, dass Halperin eine Art Generalvollmacht von Glauser besaß für seine weiteren Kürzungen, weshalb der vorliegenden Ausgabe – mit einer Ausnahme – die Zeitschriftenversion zu Grunde liegt. (Die Ausnahme betrifft Kapitel 6 des ersten Teils, eine eingeschobene kurze Erzählung des Schicksals eines einzelnen Legionärs. Sie weist tatsächlich kaum einen Zusammenhang mit dem Rest des Romans auf und könnte auch als eigenständige Kurzgeschichte existieren, trägt aber im Ganzen durchaus zur Bildung der gewünschten dichten Atmosphäre bei, weshalb es in meiner Ausgabe wieder eingefügt wurde.)

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Kürzungen dem Studer-Roman sein Flair, seine ‚Atmosphäre‘, zerstört haben. Aber nichts darf verallgemeinert werden – die Kürzungen bei Gourrama haben dem Erzählfluss gut getan. Das meiste, was im großen Stil heraus gekürzt wurde, waren Träume, die Glauser vor allem im zweiten Teil, Fieber, seinen Anti-Helden Lös träumen ließ. Diese, mit ihrer surrreal-metaphysischen Note, haben tatsächlich die ansonsten dicht gestrickte Atmosphäre des Romans unterbrochen. Dass sie überhaupt da standen, verdanken sie wohl der Faszination für Träume, die Glauser eine Zeitlang verspürte, als er beim Anstaltsarzt Max Müller (dem und dessen Frau der Roman gewidmet ist) in regelmäßiger psychoanalytischer Behandlung stand. Die anderen Kürzungen betreffen meist überflüssige zusätzliche Beschreibungen von Handlungen oder Tics der Personen, die meist nur lächerlich und umständlich klingen.

Wichtig also schon in Glausers Roman-Erstling ist die Atmosphäre. Vor allem im ersten Teil steht die Suche nach Zuneigung und Liebe (nicht nur unbedingt körperlicher!) stark im Vordergrund – Gefühle, die alle Legionäre vermissen. Zur Garnison gehört zwar ein Bordell, aber eigentliche Zuneigung oder Liebe finden die Legionäre dort natürlich nicht. So kommt, es dass in der Garnison viele kürzer oder länger dauernde homosexuelle Verhältnisse existieren, die ganz offen gelebt und von Soldaten wie Offizieren (auch dem Kommandanten!) akzeptiert werden.

Daneben versteht es Glauser hier, ganz geschickt eine Klammer um den ganzen Roman zu stellen – sogar eine literarische. Zu Beginn erfährt Korporal Lös, der sich im Lauf der Geschichte als deren zentrale Figur herauskristallisiert und der viele Erlebnisse von Glauser selber durch macht oder gemacht hat, aus einer Zeitschrift, die endlich ihren Weg in die entlegene Garnison gefunden hat, dass Ende letzten Jahres Marcel Proust verstorben ist. Am Schluss – Lös ist bereits auf Reform (sprich: er wurde aus gesundheitlichen Gründen aus der Legion entlassen) in Paris – wird er in einer Buchhandlung sehen, dass der letzte Band der Suche nach der verlorenen Zeit, Die wiedergefundene Zeit gerade erschienen ist. Er kauft sich das Buch und setzt sich auf eine Parkbank um zu lesen. Damit stellt Glauser das Schicksal des ehemaligen Korporals Lös in eine Parallele zum Ich-Erzähler Prousts. Auch Lös hat am Ende des Romans seine Zeit wiedergefunden. (Im Übrigen gab die Nachricht von Prousts Tod im Lager auch Gelegenheit für eine kurze literarische Diskussion, denn es zeigt sich, dass Lös nicht der einzige literarisch Interessierte und Gebildete in der Kompanie ist. Man diskutiert die Meriten Mallarmés, von dem ein kurzes Zitat aus Don du poème als Motto den ersten Abschnitt, Alltag, ziert, sowie Baudelaires, von dem ein Zitat aus Plaintes d’un Icare dem zweiten Abschnitt als Motto dient, und vergleicht sie sogar mit denen Rilkes.

Im Großen und Ganzen aber beherrschen Schmutz und Langeweile den Alltag, nur erträglich gemacht dadurch, dass riesige Mengen an Wein und gebrannten Wassern in allen Versionen getrunken werden. Diese Langweile versteht Glauser grandios zu vermitteln, ohne dabei selber langweilig zu werden.


Ein Wort noch zu meiner Ausgabe. Ich habe den Roman in der Taschenbuchversion des Unionverlags Zürich, 2. Auflage 2013, gelesen, die meines Wissens text- und seitenidentisch ist mit der Originalausgabe des Limmat Verlags Zürich. Diese Ausgabe versteht sich bewusst nicht als eine kritische, dennoch finden wir einen rund 200 Seiten starken Anhang, der neben einem Nachwort, einen editorischen Bericht enthält, Fragmente, die Kürzungen und Lektoratskorrekturen, davon getrennt die Korrekturen Glausers, und Anmerkungen. Dieser Anhang weist zwar ein eigenes Titelblatt auf mit der Aufführung der einzelnen Teile, aber leider wird deren Nützlichkeit stark eingeschränkt dadurch, dass der Verlag es offenbar nicht für nötig hielt, auch Seitenzahlen hinzuzufügen. Man ist also gezwungen, entweder wie wild ständig im Buch zu blättern oder sich die Seitenzahlen selber herauszusuchen und zu notieren. Dass der eigentliche Text über gar kein Inhaltsverzeichnis verfügt, ist unentschuldbar. Ein weiterer Faux-Pas ist, dass die Anmerkungen und Kürzungen zwar auf Seiten- und Zeilenzahl im Text zurückweisen – nur sind leider die Zeilen auf den Seiten nicht nummeriert, und ich darf also mühsam von Hand zählen, welches denn nun (zum Beispiel) Zeile 16 ist. Auch das ist meiner Meinung nach unentschuldbar.

Dafür nun kann Glauser aber nichts, und der Roman als solcher ist durchaus eine Leseempfehlung wert.

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